TEIL II – „Ein Stern erster Ordnung“.
Kaser war noch im Kloster, als er eingeladen wurde, an der 20. Österreichischen Jugendkulturwoche in Innsbruck teilzunehmen, um dort zu lesen. Außer ihm war aus Südtirol Josef Zoderer geladen. Die beiden waren in bester Gesellschaft. Es lasen Leute, die heute lange schon zu den arrivierten österreichischen Literaten gehören: Barbara Frischmuth, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Peter Matejka, Michael Scharang u. a. Als der Sekretär des Südtiroler Kulturinstitutes Dr. Josef Waldthaler Kaser zur Einladung gratulierte, anwortete dieser so, dass sein gespanntes Verhältnis zur offiziellen Südtiroler Kultur sichtbar wird. Er schrieb:
„Es tut mir leid Ihnen mitteilen zu müssen, daß mir Ihr Glückwunschschreiben vom 21. dieses Monats alles eher als gelegen kam. Es stellt meine Fahrt zur Jugendkulturwoche in Frage.
… So möchte ich Sie bitten, für immer meine Anschrift, Existenz und Lyrik zu vergessen und sich weitere Anbiederungsversuche aus dem Kopf zu schlagen.“
Es war tatsächlich so, dass das 1954 gegründete Südtiroler Kulturinstitut damals konkurrenzlos bestimmte, was in Südtirol kulturell zu geschehen oder nicht zu geschehen hatte. Bis weit in die 60er Jahre hinein begehrte niemand dagegen auf. Auch die Studenten fraßen der Partei aus der Hand. Wer damals in der Südtiroler Hochschülerschaft (SH) in Führungspositionen drängte, tat ein Gleiches wenig später, wenn es um wichtige Positionen im Lande ging. Mitte der 60er Jahre begann es unter den Studenten lebendiger zu werden, kritischer, weniger parteihörig. Auch hier in der damals noch autonomieschwachen Provinz kündigte sich das Jahr 1968 an. Die SH wurde vom Musterzögling zum Sorgenkind. Ein bisschen war das bereits so, als die SH im Spätsommer des Jahres 1969 in der Cusanus-Akademie in Brixen ihre 13. Studientagung zum Thema „Kunst und Kultur“ abhielt. Damals lag das Gewitter schon in der Luft, das sich dann unter des Cusanus Rauchmantel so kräftig entlud, und den Blitzeschleuderer spielte der kurz vorher im dritten Anlauf durch die Matura gekommene N. C. Kaser. Er war von der SH beauftragt worden, auf der Tagung über die Südtiroler Literatur zu reden. Am 27. August 1969 tat er es, nachdem er sich gründlich vorbereitet hatte. Der Rede gab er den Titel „Südtirols Literatur der letzten zwanzig Jahre und der Zukunft“. Er begann so:
„99% unserer Südtiroler Literaten wären am besten nie geboren, meinetwegen können sie noch heute ins heimatliche Gras beißen, um nicht weiteres Unheil anzurichten. In der Einladung zum heurigen ‚literarischen kolloquium‘ heißt es: ‚Südtirols Literaur ist tot‘. Wie aber kann etwas tot sein, das es gar nicht gegeben hat? So spreche ich nun über Dinge, die es nicht gibt.“
Dann halste Kaser den langen Sündenkodex der Südtiroler Literatur einer Familie auf, der Familie Mumelter, keiner Familie im engsten Sinne, aber einer einzigen relativ losen Verwandtschaft. Von Hermann Mumelter, dem „Poeten des Schlern“, las Kaser das Gedicht „Trüber Tag“. Sein Kommentar dazu: „Solche Gedichte hat man nie verboten und nie verbrannt. Sie tun niemandem weh. Das sind die Exkremente einer total vertrottelten Bozner Schießbudengesellschaft, die wohl über den Dingen steht und dann und wann ihre Seele entleert. So sind unsere Dichter, so ist auch unser Dichterbild: verlogen, verkitscht und kraftlos.“ Hubert Mumelters Roman „Maderneid“ erging es nicht besser. Am Ende heißt es:„Maderneid ist eine Schweinerei.“
Nach dem Mumelter-Clan ist dann Eugen Thurnher an der Reihe, der Innsbrucker Germanist aus Vorarlberg, der damals in Südtirol so etwas wie der Kulturpapst war. Unter anderem managte er die Meraner Hochschulwochen. Kaser verübelte Thurnher vor allem, dass er so felsenfest von der Selbständigkeit des Südtiroler Kunstschaffens überzeugt war und den Südtirolern damit die Nabelschnur sowohl nach Norden wie nach Süden abschnitt. Kaser zitiert in diesem Zusammenhang aus Thurnhers Büchlein „Dichtung in Südtirol“ und danach heißt es: „Das ist Idiotie“ und „Eugen Thurnher ist ein armes Würstchen“.
Nachdem dann auch noch die Dolomiten und die RAI ihr Fett abgekommen haben, folgt für die Literatur der Zukunft ein gar nicht so düsterer Ausblick. In den Zeitschriften „die brücke“ und „Der Skolast“ sieht Kaser die Medien für die neue Literatur. Von den offiziell anerkannten Südtiroler Dichtern ließ Kaser keinen gelten, den in Berlin lebenden Franz Tumler aber nannte er „Vater unserer Literatur und Vater unseres Erkennens“. Und dann kündigt er eine neue Generation von Südtiroler Autoren an und nennt Herbert Rosendorfer, Josef Zoderer, Claus Gatterer und Kuno Seyr. Am Schluss der Rede sagte er:
„Das Ausland beginnt sich für unsere Generation zu interessieren. Wir haben gute Vorboten: Tumler, Flora, Plattner. Langsam brechen die Vorurteile uns gegenüber ein. Wir haben als Literaten die Pflicht, sie weiter einzureißen. Uns gehört das Wort. Bei uns stehen noch so viele heilige Kühe herum, daß man vor lauter Kühen nichts mehr sieht. Das Schlachtfest wird grandios werden. Die Messer werden schon die ganze Zeit über gewetzt. Und unter den Schlächtern sind sicher zwei, drei Leute, die beim Beruf bleiben, denen es gefällt, den Tiroler Adler wie einen Gigger zu rupfen und ihn schön langsam über dem Feuer zu drehen. Und die Italiener sind dann auch mit von der Partie. Auch sie haben die heiligen Kühe herdenweis. Die Schlächter stehen alle so in meinem Alter. Wir sind unser zwanzig und mehr. Manche können kein Blut sehen, aber das macht nichts. Südtirol wird eine Literatur haben, wie gut daß es niemand weiß. Amen.“
Was auf diese Rede an Reaktionen folgte, hat Kaser sicher nicht vorausgeahnt, aber es gibt Hinweise darauf, dass er es doch irgendwie genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Er hat die Pressereaktionen und Leserbriefe mit Maschine abgeschrieben und dazu ein Titelblatt gemacht, auf dem steht: „wie man ins wespennest sticht, so sticht es heraus“.
Wenn man die Presseberichte liest, fällt auf, dass sowohl Dolomiten wie Alto Adige auf den Inhalt der Rede kaum eingehen, sondern sich lediglich entrüstet geben darüber, dass da in der Öffentlichkeit etwas höchst Ungehöriges, ja Unanständiges geschehen war. In einer Glosse in den Dolomiten, die von Toni Ebner sen. höchstpersönlich gezeichnet ist, heißt es:
„Der „Schlächter“ der Studientagung verdient keine weitere Erwähnung; er war nicht ernst und braucht nicht weiter ernst genommen zu werden. Die an anderer Stelle veröffentlichte Glosse „Heiliges Rindvieh“ ist die richtige Antwort der Zeitung auf seinen Unsinn“.
Und dann wird die SH von Toni Ebner zur Ordnung gerufen, sie soll sich distanzieren. Das tut sie nicht, aber zwei frühere Funktionäre tun es, der spätere Parlamentarier Dr. Hugo Gamper und Dr. Günther Regensberger in Form eines Dolomiten-Leserbriefes (2.9.1969), die aber ihrerseits auch nur wieder die SH zur Distanzierung ermahnen.
Es gab auch anonyme Briefe, die teilweise so drohend klangen, dass Kaser, wie sein Schulfreund Joseph Mair berichtet, es eine Zeitlang mit der Angst zu tun bekam. Eine kleine Tonprobe, die in Meran aufgegeben wurde:
An den SCHWEINE – HUND und
dreckigsten Fock
Norbert Conrad Kaser
39031 Bruneck
Der du den TIROLER Adler wie einen Kikker den Kragen abdrehen wirst, du niederträchtigstes Schwein das jemals in Südtirol herumgelaufen ist. Komm nur her nach Meran, wir werden dich aber auch in Bruneck suchen, dann wirst du einmal einen Südtiroler Metzger kennen lernen, das rostigste Beil ist grad gut genug für so einen Zigeuner ä (und) Fock. …
Alle Schützen unserer herrlichen und teuren Heimat Südtirol werden dich verfolgen bis du hin bist Sauschwein !!!!!
Es kann schon sein, dass Kaser, solange das Theater dauerte, dem zumindest teilweise ganz genüsslich zusah. Es gibt aber in einigen Briefen auch Hinweise darauf, dass er doch schon bald merkte, dass aus seiner Brandrede nicht nur plötzlicher Ruhm aufloderte. Recht drastisch kommt das in einem Brief an Joseph Mair zum Ausdruck:
„… so habe ich zum beispiel durch das brixner referat einen großen scheißdreck in meine zelle gesetzt. anfangs hat er schrecklich gestunken mir wurde fast schwach davon. jetzt ist er eingetrocknet ein wenig geschrumpft, aber wegzubringen nicht.“
Kasers Brixner Rede wurde vor allem von Leuten, für die Kulturpolitik in erster Linie Volkstumspolitik zu sein hatte, auf das schärfste verurteilt. Aus heutiger Sichtweise bleibt die Tatsache, dass Kaser in einigen wesentlichen Punkten den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das Literaturverständnis der Südtiroler war nicht zeitgemäß. Die Moderne hatte einen Bogen um Südtirol gemacht oder besser die Südtiroler um die Moderne. Die Dichter idealisierten heimattümelnd, wo schon lange nichts mehr zu idealisieren war. Hätte man die Brückenfunktion des Landes zwischen Norden und Süden ernst genommen, hätte das eigentlich auch politische Folgen haben müssen, die dem Frieden im Lande zuträglich gewesen wären. Wenn wir die verschiedenen Standpunkte der damals gültigen Kulturpolitik beurteilen wollen, ist zu berücksichtigen, dass wir uns in den 60er Jahren in der Kampfzeit um die Südtirolautonomie befunden haben. Für die meisten war es wichtiger, die eigene Identität, was immer man auch dafür hielt, zu verteidigen, als zu den kulturellen Positionen der Moderne durchzubrechen. Es gab Einzelne, die weiterdachten und das auch kundtaten. N. C. Kaser gehörte dazu. Er war wohl zu früh dran. Ein klitzekleines Beispiel für dieses Zu-früh-Dransein: 20 Jahre nachdem Kaser Franz Tumler den Vater unserer Literatur und unseres Erkennens genannt hatte, ehrte das offizielle Südtirol diesen gleichen Franz Tumler.
Kaser wurde die Brixner Rede sein kurzes Leben lang nicht mehr los. Sie hat sein Außenseitertum, das ihm selbst sehr bewusst war, verstärkt, nach außen getragen. Die Vertreter des von ihm verrissenen hinterherhinkenden Südtiroler Zeitgeistes verziehen nicht und vergaßen nichts. Im Jahre 1970 erschien die von Gerhard Mumelter herausgegebene Anthologie „neue literatur aus südtirol“, in der Kaser mit der größten Anzahl von Gedichten vertreten war, die zu Lebzeiten auf einmal erschienen sind, nämlich mit 26. Zu den 24 Autoren zählten neben N. C. Kaser auch Gerhard Kofler, Roland Kristanell, Konrad Rabensteiner, Herbert Rosendorfer, Kuno Seyr, Luis Stefan Stecher, Markus Valazza, Joseph Zoderer u.a.
Hermann Eichbichler rezensierte die Antologie in der literarischen Beilage der Dolomiten (7.1.1971, S. 3) in einer Weise, in der man alle literarischen Werke verreißen könnte, die Bibel eingeschlossen. Dem Verriss waren zwei Goethezitate beigegeben, und zwar so gesetzt, dass man schon merkte, auf wen sie zu beziehen waren. (RT)
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