Unser Leben mit Tieren ist so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst. Seit Jahrtausenden betreiben wir Nutztierhaltung und essen noch länger Fleisch. Aber unser moralisches Empfinden Tieren gegenüber ist zwiespältig. Einmal stehen nicht alle Tierarten auf unserem Speiseplan, zum anderen ist unser Verhalten Tieren gegenüber ambivalent: Beschützerinstinkt für die einen und Scheuklappen bei den Qualen nicht artgerechter Haltung und Schlachtung der anderen. Letzteres führte zum Ernährungsstil des völligen Fleischverzichts, was die Frage aufwirft: Braucht unser Körper Fleisch?
„Tiere behandeln wir Menschen ungleich und ungerecht. Welche Tiere wir hässlich und welche niedlich finden, dafür kann das Tier nichts. Der Grund dafür liegt allein im Auge des Betrachters. Konrad Lorenz hat den Begriff ‚Kindchenschema‘ geprägt, demnach aktivieren bestimmte Schlüsselreize, wie großer Kopf, rundes Gesicht, große, runde Augen, kleine Nase und dergleichen unser Schutz- und Pflegeverhalten. Welche Tierarten wir dagegen essen, hängt vielfach vom Kulturkreis ab, in dem wir aufgewachsen sind. Hunde und Katzen sind bei uns keine Lebensmittel, wir gehen vielmehr soziale Beziehungen mit ihnen ein. Wir haben aber kein Problem damit, uns einen Hund zu halten und Füchse zu jagen, die evolutionsgeschichtlich den Hunden sehr nahe sind“, gibt Martin M. Lintner zu bedenken, Moraltheologe an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Brixen. Für Isabel Wegscheider, Initiatorin der Facebook Seite „Vegan in Südtirol“, ist die Tatsache, dass wir nur bestimmte Tierarten essen, andere dagegen als Haustiere halten und eine enge Beziehung zu ihnen aufbauen, Ausdruck unserer inneren Zwiespältigkeit: „Auf der einen Seite kämpfen wir für strengere Gesetze zum Schutz der Haustiere und andererseits akzeptieren Menschen ohne Bedenken, dass in der Massentierhaltung Tiere wochen- und monatelang gequält, ausgebeutet, misshandelt und bestialisch abgeschlachtet werden. Da stimmt irgendwas nicht! Und so haben wir Menschen beschlossen, die Tierwelt in zwei Klassen einzustufen: In jene, die wir lieben und jene, die wir essen.“
VEGAN LEBEN
Wegscheider lebt seit drei Jahren komplett vegan: „Eine vegane Lebensweise kennzeichnet sich dadurch, dass man keine Nahrungsmittel tierischen Ursprungs zu sich nimmt. Das gilt neben Fleisch, Wurstwaren und Fisch auch für Milch, Eier, Honig, Käse und sämtliche tierische Fette. Außerdem verzichtet man auch bei Kleidung und Kosmetika auf Produkte tierischer Herkunft, wie Leder, Wolle oder Seide.“ Ursprünglich habe sie nie die Absicht gehabt, von ihrer vegetarischen Lebensweise, die sie zehn Jahre lang praktizierte, auf vegan umzustellen. Damals galten Veganer für sie als Fanatiker. Doch die Lektüre eines Artikel über die Auswirkungen der Milch auf Mensch und Tier habe den Anstoß gegeben, sich eingehender zu informieren, bis schließlich der Entschluss feststand, den sie bis heute nicht bereue: „Am Anfang meines Vegan-Daseins hatte ich viele Fragen wie etwa, wo ich vegan einkaufen, wohin ich vegan essen gehen kann, ob es in Südtirol eine vegane Bewegung gibt usw. Im Internet wurde ich nicht schlauer, und da kam mir die Idee, eine Südtiroler Facebook Seite zu gründen, um sich auf regionaler Ebene austauschen zu können. Das war vor gut drei Jahren.“ Inzwischen sei die Facebook Seite gut besucht und habe 657 Mitglieder aus dem ganzen Land und sogar ein paar aus Deutschland und Österreich, welche sich meistens informieren möchten, wo man in Südtirol vegan essen gehen könne. „Seit Kurzem sind wir auch dabei, eine Internetseite ‚Vegan in Südtirol‘ auf die Beine zu stellen. Diese dreht sich rundum die vegane Szene in Südtirol.“
BRAUCHEN WIR FLEISCH?
Essen wir Menschen aber Fleisch nur, weil es uns schmeckt, oder hat Fleisch bestimmte Inhaltstoffe, die wir benötigen, um gesund zu bleiben. Den Proteinmythos, dass Menschen auf tierische Proteine unbedingt angewiesen sind, kann Irmgard Pallhuber, Leiterin des Dienst für Diät und Ernährung am Krankenhaus Bruneck, nicht uneingeschränkt aufrechterhalten: „Tierische Proteine kann unser Körper besser verwerten, aber Proteinquellen finden sich auch in Pflanzen. Da diese im Allgemeinen weniger Protein und weniger hochwertiges Protein inklusive weniger essentieller Aminosäuren enthalten, sollte bei veganer Ernährung die Nahrungszufuhr etwas gesteigert werden zum Ausgleich der geringeren Proteinmenge und geringeren Wertigkeit der pflanzlichen Proteine. Es ist darauf zu achten, dass vor allem in der Stillzeit und in der Wachstumsphase der Eiweißbedarf erhöht ist.“ Von einer gänzlich fleischlosen Ernährung rät Pallhuber allerdings ab: „Eine adäquate Zufuhr von Nährstoffen kann am besten durch eine abwechslungsreiche und vielseitige Lebensmittelauswahl sichergestellt werden. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung empfiehlt eine Auswahl von allen im Ernährungskreis aufgeführten Lebensmittelgruppen, also auch von tierischen Produkten. Eine ausgewogene Ernährung sollte zu einem Großteil aus pflanzlichen Produkten und einem kleinen Teil aus tierischen Produkten, inklusive Fisch und wenig Fleisch, bestehen, um eine optimale Nährstoffversorgung zu erreichen. Die Gefahr einer Mangelversorgung besteht vor allem im Säuglings- und Wachstumsalter, beim älteren Menschen und bei Menschen mit konsumierenden Erkrankungen wie etwa Tumoren.“
MANGELERNÄHRUNG OHNE FLEISCH
Ihre vegane Ernährung, hebt Wegscheider hervor, führe zu keinerlei Mangelerscheinungen: „Ich bin überzeugt, und da spreche ich aus eigener Erfahrung, dass Veganer im Gegensatz zu Omnivoren, die auch tierische Produkte essen, viel mehr auf ihre Ernährung, Vitamin-und Mineralienzufuhr achten, und somit seltener an Mangelerscheinungen leiden als Allesesser.“ Bei rein veganer Ernährung, wendet Pallhuber ein, sei eine ausreichende Versorgung mit einigen Nährstoffen nicht oder nur schwer möglich: „Das größte Risiko einer Mangelversorgung betrifft Vitamin B12, das fast ausschließlich in tierischen Lebensmitteln vorkommt. Vitamin B12 Mangel führt zu Blutarmut und neurologischen Störungen. Menschen, die sich vegan ernähren, sollten ihren Vitamin B12 Spiegel bestimmen lassen und Vitamin B12 substituiert bekommen, genauso wie Vitamin D. Bei Vitamin D Mangel entsteht eine Osteoporose mit erhöhter Knochenbrüchigkeit, vor allem Frauen nach der Menopause sind hier gefährdet. Eine rein vegane Ernährung enthält einen niedrigeren Proteingehalt, weniger essentielle Aminosäuren und weniger Omega3 Fettsäuren. Auch Calcium, Eisen, Zink und Selen sind in veganen Produkten in geringerer Menge vorhanden. Von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung wird in der Schwangerschaft, in der Stillzeit, im Säuglingsalter und in der gesamten Wachstumsphase eine vegane Ernährung nicht empfohlen. Zudem stellen wir fest, dass eine Fixierung auf eine einseitige bzw. energieärmere Ernährung das Risiko für die Entwicklung einer Essstörung erhöht.“
FLEISCHWAHN UNSERER ZEIT
Nicht der Fleischkonsum an sich werde von ihr als Veganerin hinterfragt, so Wegscheider, sondern „die Massentierhaltung und der Fleischwahn der heutigen Gesellschaft. Fleisch wird heutzutage in großen Menge produziert. Um der Nachfrage gerecht zu werden, werden Tiere jeglicher Art in großen, dunklen Hallen eingepfercht auf engstem Raum, wo sie sich gegenseitig niedertrampeln und verletzen. In kürzester Zeit werden sie gemästet, mit Antibiotika und anderen Medikamenten vollgepumpt und zum Schluss bestialisch abgeschlachtet. Weibliche Masttiere werden ständig zwangsbefruchtet, damit die ‚Ware‘ nicht ausgeht, und wenn sie irgendwann ausgedient haben, werden sie wie wertloser Müll einfach entsorgt.“ Gerade die Wahrung der Tierwürde hat Lintner in seinem Buch „Der Mensch und das liebe Vieh. Ethische Fragen im Umgang mit Tieren“ thematisiert, das im Mai im Tyrolia-Verlag erscheinen wird: „Früher lebte man eingebunden in der Landwirtschaft. Dem Tier galt eine andere Wertschätzung, man hat mit den Tieren gelebt. Tiere zu züchten, aber auch zu mästen und zu schlachten war normal. Man hat auch das ganze Tier verwertet und sich nicht das beste Stück herausgeschnitten und den Rest entsorgt. Auch das emotionale Verhältnis zum Nutztier war intakt. Vor dem Schlachten war es üblich, das Tier nochmal richtig gut zu fütter, um ihm was Gutes zu tun. Dieser Bezug zur Natur ging vielfach verloren. Heute neigen die Menschen zu zwei Extremen: Vermenschlichung und Verdinglichung der Tiere. Es bedarf der Sensibilisierung, dass übermäßiger Fleischkonsum nur durch Massentierhaltung und Massenschlachtung zu bewerkstelligen ist. Nach einer Reportage 2016 im ORF über die tierethisch unhaltbaren Zustände auf Schlachthöfen ging ein Protestbrief beim Landwirtschaftsministerium ein, in dem es hieß: Es sei ein Skandal, dass es heutzutage noch notwendig sei, Tiere zu schlachten, wo man doch Fleisch im Supermarkt kaufen könne.“
GAR KEIN FLEISCH, KEINE OPTION
„Gänzlich auf Fleisch zu verzichten, ist keine Option, da nicht das Fleischessen an sich ethisch verwerflich ist. Die Tierhaltung ist bei uns auch in vielerlei Hinsicht wichtig. Die Umwelt wird dadurch gepflegt und für viele Menschen stellt sie die Lebensgrundlage dar. Ohne die Ausscheidungen der Tiere wäre eine nachhaltige Düngung und Fruchtbarhaltung der landwirtschaftlichen Böden nicht möglich. Wäre das Töten der Tiere zum Verzehr grundsätzlich verwerflich, müsste man jedes Tier eines natürlichen Todes sterben lassen. Das wäre oft ein zu schmerzlicher Prozess und das andere Extrem. Besser ist es, auf Billigfleisch zu verzichten, seinen Fleischkonsum zu reduzieren und auf gute Qualität aus unserer Region zu achten, um lange Transportwege zu vermeiden“, ist Lintner überzeugt.
TIERSCHUTZ IN DER BIBEL
In der Bibel finden sich ganz eindeutige Gebote, was den Umgang mit Tieren betrifft, so Lintner: „Nach dem Schöpfungsbericht ist dem Menschen die Erde anvertraut, um das Leben zu schützen, und nicht, um es zu zerstören. Bis zur Sintflut dienten nur Pflanzen zur Nahrung, das galt auch für die Tiere. Das Fleischessen wird dem Menschen erst im Noahbund gestattet. Dabei ist das Blut als Sitz des Lebens immer ausgenommen. Das dient dem Bewusstsein, dass man einem Lebewesen durch die Tötung Unrecht zugefügt hat und dass man nur begrenzt Verfügungsrecht über das Tier hat. Tiere werden auch in die Sabbatruhe miteinbezogen, d. h. sie haben ein Anrecht, sich zu erholen. Tiere gehören in der Bibel zum Besitz des Menschen, und darauf haben wir nach dem neunten Gebot zu achten. Dass Menschen und Tiere Tiere töten, um sie zu essen, ist kein Idealzustand. Aber in dieser Realität leben wir. Es gibt in der Natur viel Leid, das Tiere Tieren zufügen, dafür sind sie nicht verantwortlich. Wir Menschen aber schon, weil wir die Möglichkeit haben zu denken und sittlich zu entscheiden.“
VERHÄLTNIS ZU TIEREN ÜBERDENKEN
Die industrielle und intensive Massentierhaltung verursacht viel Tierleid. Zwar möchte kaum jemand, dass Tiere gequält und unter Stress und Schmerzen getötet werden, und dennoch geschieht genau das in gigantischem Ausmaß. „Wir blenden Wissen aus und vergessen, sobald das Fleisch bei uns auf dem Teller liegt. Aber das Tierleid löst in uns Mitleid und Empathie aus. Diese Fähigkeiten sollten wir pflegen. Unser Umgang mit Tieren spiegelt unseren Umgang mit Menschen wieder. Wer grausam zu Tieren ist, ist es auch zu Menschen“, so Lintner. Dass wir die einen Tierarten lieben, die anderen aber verzehren, darin sieht Lintner dennoch keinen moralischen Widerspruch: „Das ist vielmehr eine Ambivalenz, die wir aber dennoch rechtfertigen müssen. Diese Ambivalenz sollte einen jeden von uns anregen, sein Verhältnis zu Tieren zu überdenken.“ (SP)
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