Vom Leben der „minderen“ Leute in früherer Zeit

Martin Kammerer aus Brixen/Taufers
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Vom Leben der „minderen“ Leute in früherer Zeit

Der Begriff “mindra Leit“ war vor allem im Ahrntal einst recht eindeutig besetzt. Gemeint waren Leute, die kaum Grund und Boden besaßen, nicht Bauern waren und auf die es im Dorfe niemals ankam. Wenn sie starben, wurde „klein geläutet“, die große Glocke ertönte nur, wenn Bauern begraben wurden. Diese minderen Leute hatten noch eines gemeinsam: Sie waren nicht im Landtag vertreten, waren also nicht landständisch und durften am legendären Tiroler Freiheitskuchen nicht mitnaschen. Eine der größten Gruppen, die zweifelsohne den minderen Leuten zugerechnet wurde, waren die bäuerlichen Dienstboten.

Früher lebten viel mehr Menschen als heute von der Landwirtschaft. Im Mittelalter waren es fast überall 90 und mehr Prozent. In Tirol, das eher spät industrialisiert wurde, waren es noch im 19. Jahrhundert weit mehr als die Hälfte. In Südtirol gaben noch bei der ersten Volkszählung nach dem Kriege im Jahre 1952 42 Prozent der Bevölkerung an, sie würden das tun. Heute liegt dieser Anteil in europäischen Industriestaaten beinahe überall unter 10 Prozent.

Die unfreien Dienstboten
Seit dem frühen Mittelalter gab es zweierlei Dienstboten, die freien und die unfreien. Der freie Dienstbote tat gegen Bezahlung (in Geld und/oder Naturalien) Dienst bei einem Bauern, in dessen Haus er wohnte. Je weiter wir zurückschauen, umso mehr unfreie Dienstboten treffen wir an, wahrscheinlich war sehr lange die große Mehrzahl der Dienstboten unfrei. In den Quellen hören wir immer wieder von unfreien Dienstboten, während wir von den freien Dienstboten nichts hören. Das hat damit zu tun, dass der Unfreie – etwa nach bayrischem Recht – als recht- und willenlose Sache im Besitze des Herrn galt, die gekauft und verkauft werden konnte. Und über das Rechtsgeschäft „Kauf“ bzw. „Verkauf“ wurde eine Urkunde abgefasst, die dann oft erhalten blieb, während der besitzlose freie Dienstbote praktisch keine Chance hatte, in die Schriftlichkeit einzugehen und so seiner Existenz pergamentene bzw. papierene Dauer zu verleihen. In diesem Fall musste ein Handschlag genügen, denn Schriftlichkeit kostete. Den Unfreien sah man in der älteren germanischen Zeit schon äußerlich ihren Stand an: sie trugen geschorenes Haar als Zeichen der Unfreiheit. Die Bilder des „Sachsenspiegels“ stellen die Unfreien mit kurzen Gewändern und mit hässlichen Gesichtern dar oder gar mit geschlitzten Nasen oder Ohren. Der Ausdruck „Schlitzohr“ ist ein germanischer Ausdruck. Der „Sachsenspiegel“ ist das bedeutendste Rechtsbuch des deutschen Mittelalters, verfasst zwischen 1220 und 1235, vom Ritter Eike von Repkow. Es handelt sich dabei um Aufzeichnungen von ungeschriebenem Gewohnheitsrecht. Der Unfreie war nicht waffenfähig. Er konnte verkauft oder verschenkt werden. Wenn er auf einem Bauernhof lebte, war er an die Scholle gebunden. „Glebae adscripti“ hießen diese an die Scholle gebundenen Unfreien auf Mittellatein. Für sie gab es auch kein „Wergeld“. Wurde jemand getötet, war das Wergeld als Buße zu erlegen. Nach bayrischem Volksrecht war für Unfreie ein Wergeld von 20 Solidi (Schillinge) fällig, aber das war nicht als Schutz für das Leben, sondern als Entschädigung für den Eigentümer gedacht. Zum Vergleich: das Wergeld eines Freien betrug achtmal so viel, nämlich 160 Solidi. Der Adelige hatte das doppelte Wergeld eines Freien.
Der Herr durfte seinen unfreien Dienstboten körperlich strafen, auch töten. Das Foltern von Unfreien war erlaubt, in Tirol im Mittelalter, in Russland bis ins 19. Jahrhundert herauf. Für die Heirat brauchten die Unfreien die Einwilligung des Herrn, dem sie dafür eine relativ hohe Geldabgabe (von 12 Denaren) zu zahlen hatten. Der Herr sah es gern, wenn sich Unfreie verheirateten, denn die Kinder von Unfreien waren wieder unfrei und blieben im Besitze des Herrn. Heirateten Unfreie zweier verschiedener Herren, dann teilte man sich die Kinder, was schön vertraglich geregelt wurde.

Beispiel 1:
Im Jahre 1227 schlossen der Bischof von Brixen und der Graf von Tirol einen Vertrag: „Wir sind übereingekommen, … dass die Kinder zwischen der Kirche und dem Grafen gemeinsam und ohne Streit aufgeteilt werden, wenn sich Ministeriale der Kirche von Brixen und der Grafschaft (Tirol) verheiraten.“ Selbst wenn wir uns wundern, der Bischof war Teil des Systems, nach dem Menschen gekauft und verkauft und Kinder geteilt wurden. Die Kirche arrangierte sich mit dem System und war Teil davon. Papst Gregor der Große hat zwar schon um 600 die Gleichheit der Menschen vor Gott betont, aber eben nur vor Gott.

Beispiel 2:
Daraus geht hervor, dass Unfreie verkauft wurden: „Kund sei getan …, dass ich Hertweich von Pray verkauft habe die Eigenleute … Heinreiche den Ruzzen und Elle den Zammerinne und ihre zwei Söhne und ihre Tochter an Johansen von Gufidaun und ihre Erben dieselben Eigenleute ihre ewiglich haben für rechten Eigen.“ Die Urkunde stammt aus dem Jahre 1314. In Tirol verschwanden die Unfreien im Laufe des 16. Jahrhunderts. Die letzten lebten im Matschertal im Vinschgau. Sie gehörten dem Grafen Trapp, der auf der Churburg hauste. Die Matscher Eigenleute des Grafen Trapp hatten es schon besser als ihre Schicksalsgenossen in früherer Zeit oder in anderen Ländern. Sie waren nicht mehr Dienstboten, sondern Bauern, die einen Hof bewirtschafteten, der – wie sie selber – dem Herrn gehörte. Jakob Trapp schildert in einer Schrift aus dem Jahre 1561 das Leben seiner Eigenleute in Matsch und hebt vor allem das Vorteilhafte ihrer Lage hervor, sodass man als Leser geradezu Sehnsucht danach bekommt, doch auch zu den unfreien Eigenleuten des Grafen zu gehören. Die Frage, warum die Unfreien in Tirol so früh verschwanden, lässt sich wohl so beantworten, dass es ihnen gelang, aus dem Dienstbotenstande auszubrechen und zu Bauern zu werden. Und ein Bauer war immer mehr als ein Dienstbote, auch wenn der Bauer unfrei und der Dienstbote war. Früher war man wer, wenn man eigenen Rauch aufsteigen ließ, d. h., wenn man ein Haus hatte.

Die freien Dienstboten
Was über die freien Dienstboten zu sagen ist, haben Menschen, die die unmittelbare Nachkriegszeit erlebt haben, mitgemacht oder zumindest mit angesehen. Damals verfügte noch jeder Bauernhof mittlerer Größe über mehrere Dienstboten, so einen Knecht, eine Magd (Dirn), ein Knechtl, ein Dirndl, eine Gietsche als Kinddirn und einen Buben als Hirten. Natürlich handelte es sich dabei um freie Dienstboten, trotzdem verlor jeder Dienstbote einen Teil seiner Selbständigkeit, wenn er in ein Dienstbotenverhältnis eintrat. Auch er war der Gewalt des Herrn unterworfen, doch galt dies nicht mehr so unumschränkt wie seinerzeit bei den unfreien Dienstboten. So war es dem Herrn immer noch erlaubt, die Dienstboten zu schlagen, allerdings nicht völlig willkürlich oder gar mit Waffen. Er durfte sich dabei eines Stockes bedienen, der höchstens fingerdick war. Schön lateinisch heißt das in der Dienstbotenordnung: „Virga aut lignum, quod digiti majoris grossitudinem non extendit.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Schlecht jemand sein Knecht oder Diern mit Rueten, den soll der Richter nicht richten, denn niemand mag gewissen, was inner Haus ein Wuert (Wirt) mit seinem Gesind zu schaffen hat.“ Obwohl es erlaubt war, Dienstboten zu schlagen, gab es doch diesbezüglich einige Einschränkungen. So war lahm und blau schlagen verboten. Alte Dienstboten erinnern sich nicht, dass ausgewachsene Knechte und Mägde geschlagen worden wären, wohl aber seien Buben häufig geschlagen worden, da genügte es z. B., wenn der Hütbub Vieh nicht mehr heim brachte oder wenn weidende Tiere in ein Feld eingebrochen waren.
Die Dienstboten waren freie Personen, die sich für eine bestimmte Zeit – meist für ein Jahr – verpflichteten, im Haus oder auf dem Felde zu arbeiten und die dafür einen bestimmten Lohn bekamen. Im Unterschied zu den Taglöhnern verfügte der Bauer aber über die gesamte Zeit seiner Dienstboten. Sie lebten ja mit ihm in Hausgemeinschaft, während die Taglöhner oder Tagwerker sich nur während der Arbeitszeit auf dem Hofe aufhielten. Im Dorf gehörten die Dienstboten, was Rang und Ansehen anging, auf die unterste Stufe. Meist waren sie besitzlos, aber auch wenn sie ein Haus besaßen und zu den Söllhäuslern oder Häuslern oder Keuschnern gehörten, waren sie nicht viel besser dran als besitzlose Dienstboten. Im Ahrntal war für diese Leute die recht verächtlich klingende Bezeichnung “Hittner“ üblich. Diese Leute waren gezwungen, sich als Taglöhner durchzubringen oder als Korbflechter oder Besenbinder zu arbeiten und mit einem Hungerlohn auszukommen. Diese Häusler waren Dienstbotenerzeuger auf ewig. Der Aufstieg in die bäuerliche Schicht war sehr schwer, weil das Ansehen gering war. So nahm etwa eine zu heiratende Bäuerin lieber einen (weichenden) Bauernbuben als ein Häuslerkind. Nur ganz wenigen Häuslern gelang es, Bauern zu werden. Die meisten besaßen nur so viel Grund, dass sie eine Kuh oder ein paar Ziegen halten konnten. In einer Zeit, wo der Grundbesitz der Maßstab der sozialen Geltung war, machte man auch in der Rechtsprechung bedeutende Unterschiede, ob einer etwas hatte oder nichts. Die Glaubwürdigkeit stieg mit dem Besitz. Ein Knecht hatte im Ernstfall gegen einen Bauern auch vor Gericht keine Chance. (RT)