Alkohol wird in unserer Gesellschaft vor allem als Genuss- denn als Suchtmittel gesehen und gehört immer noch zu den Tabuthemen. Dem Erkennen und Behandeln der eigenen Suchtkrankheit, geht meist ein langer Leidensprozess für den Betroffenen und dessen Familie voraus. Der Sucht Herr zu werden ist ein beschwerlicher und lebenslanger Weg, wo Selbsthilfegruppen eine wichtige Stütze sein können.
Aus dem Leben eines ehemaligen Alkoholikers
Meist sind es die Alkoholkranken selbst, die sehr spät erkennen, dass sie krank sind und Hilfe brauchen. Nach dieser Einsicht folgt meist ein langer, schwarzer Tunnel, den die Suchtkranken durchschreiten, bis sie sich in ein normales Leben zurückgekämpft haben. So erging es auch Werner (der Name wurde von der Redaktion geändert). Werner war 19 Jahre alt, als er das erste Mal mit Alkohol in Berührung kam. Damals hätte er sich nie gedacht, dass diese Begegnung ihn ein Leben begleiten würde. Dabei erging es Werner wie so vielen jungen Menschen, die voller Hoffnung in das Erwachsenenleben starten und durch unkontrollierten Alkoholkonsum alkoholkrank werden. „Mann muss bis auf den Boden fallen, bis man die Kraft hat sich Hilfe zu holen“, erzählt der ehemalige Alkoholiker, der mittlerweile seit sechs Jahren trocken ist und regelmäßig eine Selbsthilfegruppe besucht. Damals hatte Werner gerade den Militärdienst beendet und trat in seinen Handwerksberuf ein. Dann sei sein “normales“ Leben vorbei gewesen, erzählt Werner. Bereits um 9 Uhr in der Früh sei zur ersten Marende auf dem Bau Wein getrunken worden. „Das war ganz normal, jeder hat Alkohol getrunken. Zu Mittag war ich angetrunken und am Abend betrunken“, sagt Werner. Ohne es zu merken oder sich je Gedanken darüber zu machen, dass er ein Problem mit Alkohol haben könnte trank dieser, eher schüchterne Typ, jahrelang weiter. „Wenn man jung ist, hält man viel aus und mir wäre nie in den Sinn gekommen, dass ich Hilfe brauche. Das wurde mir erst mit Dreißig bewusst. Da hatte ich schon in der Früh das Bestreben weniger zu trinken, aber ich habe diese Gedanken dann bis zum Abend meistens wieder verworfen. Ein paar Jahre später starb dann mein Vater, was mich sehr belastet hat. Zum Alkoholkonsum kamen noch depressiven Phasen und soziale Isolierung hinzu. Niemand will so mit dir noch etwas zu tun haben, meine Arbeit habe ich auch durch den Alkohol verloren. Auch der Leidensdruck der Familie war über ganzen Jahre sehr hoch.“ Erst spät merkte Werner, dass er Hilfe brauchte und kam durch einen Bekannten in betrunkenem Zustand ins Krankenhaus, wo er professionelle Hilfe bekam. So begann für Werner der Weg durch den schwarzen Tunnel, aber er konnte das Licht wieder sehen, ohne Alkohol. „Dieser Prozess hält ein Leben lang an und geht nicht ohne Rückfälle vonstatten“, wie er erzählt. Mittlerweile ist Werner seit sechs Jahren trocken und ist froh darüber eine Selbsthilfegruppe besuchen zu können, wo er über seine Sucht sprechen kann. „Ich wünsche jedem, der Probleme mit Alkohol hat, sich Hilfe zu suchen. Ich weiß, dass die Angst und die Probleme groß sind, aber es ist der einzige Weg aus dieser Sucht.“
Interview mit dem Vizepräsidenten des Alkoholkrankenverbandes Südtirol (A.K.V.-S) über die Selbsthilfegruppen für Suchtkranke
Puschtra: Herr Pedevilla, Der Alkoholkrankenverband organisiert und vertritt Selbsthilfegruppen (Clubs) für Personen und Familien mit alkoholbedingten Problemen. Wie viele dieser Gruppen gibt es zurzeit im Pustertal, Gadertal und Ahrntal?
Paolo Pedevilla: Italienweit gibt es mehr als 2.000 Gruppen. Wir bezeichnen die Selbsthilfegruppe als Clubs. Im Pustertal, Gadertal und Ahrntal sind es aktuell sechs aktive Clubs: in Bruneck gibt es zwei Clubs, in Olang, in Sand in Taufers, in Stern und in St. Martin in Thurn je einen. Bis vor kurzem hatten wir noch mehrere Clubs, aber wir mussten einige schließen, weil die Teilnehmer nach dem Corona-Lockdown nicht mehr gekommen sind. Ich bin in der Selbsthilfegruppe Pütia in St. Martin in Thurn seit 24 Jahren als Gruppenleiter tätig und kümmere mich vor allem um die Ausbildung der einzelnen Gruppenleiter der Selbsthilfegruppen.
Wie läuft eine Sitzung in einer Selbsthilfegruppe ab?
Wenn jemand interessiert ist, den Club zu besuchen, wird mit diesem Betroffenen zuerst ein Vorgespräch geführt. Im Club selbst treffen wir uns dann einmal wöchentlich, meist von 20 bis 21.30 Uhr. Die Gruppe setzt sich aus einem Gruppenleiter und mehreren Teilnehmern zusammen, die je nach Club variieren. Es gibt Clubs mit vier Personen und andere mit 12 Teilnehmern. Momentan sind die Gruppen eher klein gehalten. Dabei hat der Gruppenleiter die Funktion, dass er dafür sorgt, dass jeder Teilnehmer über seine Probleme mit der Sucht sprechen kann. Wir reden von der Gegenwart, um die Zukunft zu programmieren. Jede Familie berichtet von ihrer Situation, von ihren Freuden, von ihren Wehen und Problemen. In diesem gegenseitigen Austausch von freudigen und traurigen Erlebnissen, in diesem Wechseltausch von Lebenserinnerungen, Erfahrungen usw. besteht das Clubleben. Vor allem aber hören wir zu, ohne Vorurteile und Wertungen. Wir sind für den anderen da und versuchen den Teilnehmer aufzufangen, damit er sich öffnen kann. Reden ist in so einer Situation hilfreich und heilsam. Es ist uns auch sehr wichtig, dass nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Familienmitglieder mit zu diesen Sitzungen kommen, denn die gemeinsame Auseinandersetzung ist wichtig. Zudem können auch Menschen die Clubs aufsuchen, die Probleme mit anderen Süchten haben.
Was ist das Ziel so einer Selbsthilfegruppe?
Der Club ist eine Selbsthilfegruppe auf freiwilliger Basis zur Überwindung der Probleme mit gemeinsamer Hilfe und Unterstützung. Ziel so einer Gruppe ist es, dass die Mitglieder über längere Zeit oder ständig ohne Alkohol leben können. Wenn ein Alkoholkranker die Terapieeinrichtung nach einigen Monaten verlässt, ist er noch lange nicht geheilt. Er kehrt zurück zu seiner Familie, in seine Arbeit, sein Dorf und muss dort mit seiner Sucht zurechtkommen. Da braucht er Menschen, die die gleichen Probleme und die gleichen Ziele haben. Er muss versuchen trocken zu bleiben und das nicht nur für einige Monate.
An welche Therapieeinrichtungen kann sich ein Alkoholkranker in Südtirol wenden?
Ich denke, dass es sinnvoll ist, sich zuerst beim eigenen Hausarzt zu melden, weil er seine Patienten kennt und demnach die Situation richtig einschätzen kann. Ansonsten gibt es natürlich verschiedene Einrichtungen, wie den Dienst für Abhängigkeitserkrankungen in Bruneck oder das Terapiezentrum Bad Bachgart in Rodeneck.
Hat sich durch die Corona-Pandemie die Situation der Alkoholkranken verschlimmert?
Im Lockdown sind die Treffen natürlich auch ausgefallen. Als Gruppenleiter haben wir versucht mit Telefonaten oder Nachrichten den Kontakt zueinander zu halten. Die Schwierigkeiten in den Familien sind auf alle Fälle größer geworden, einige haben ihre Arbeit verloren, sind in finanzielle Schwierigkeiten geraten, Männer mussten Zuhause bleiben… Deshalb haben viele Alkoholkranke noch tiefer ins Glas geschaut. Aufgrund der Teilnahme in den Clubs kann ich sagen, dass nach dem Corona-Lockdown weniger Betroffene zu den wöchentlichen Sitzungen gekommen sind. Bei einigen Teilnehmern waren auch Ängste da, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren.
Wie viel Prozent von Alkoholkranken erleiden einen Rückfall?
Italienweit werden 30 Prozent, die innerhalb eines Jahres regelmäßig die Gruppe besuchen, wieder rückfällig.
Wie geht es für diese Menschen weiter?
Das Problem ist nicht, rückfällig zu werden, wenn der Betroffene sich dann erneut in die Gruppe begibt und dort aufgefangen werden kann. Das passiert öfters. Es gibt genügend Beispiele von Menschen, die nach vielen Jahren rückfällig geworden und dann erneut für viele Jahre trocken geblieben sind. Die Clubs sind deshalb sehr wichtig für Menschen, die eine Sucht meistern wollen.
Alkohol gilt bei uns eher als Genussmittel, denn als Droge. Wird Ihrer Meinung nach die Alkoholsucht als Krankheit unterschätzt?
Ja, die Allgemeinheit verharmlost die Krankheit mit Sicherheit. Ärzte, Fachpersonal, Familienmitglieder oder Behörden, die mit Alkoholikern zu tun haben, wissen, welche Probleme die Krankheit mit sich bringt. Für den Großteil unserer Gesellschaft ist Alkohol aber etwas, das dazugehört. Es wird gesellschaftlich akzeptiert, wenn getrunken wird. Alkohol ist eine tückische Droge.
Kunstausstellung:„EXTRASOBER – Ein nüchterner Blick“
In Südtirol konsumieren 78 Prozent der Südtiroler Alkohol, an die 25.000 Menschen sind abhängig und Alkoholkonsum verursacht fast jeden 10. Todesfall. Diese Daten präsentiert das Forum Prävention auf seiner Homepage zum Thema Alkohol. Seit 17. Mai ist auch die erste virtuelle Kunstausstellung mit Präventionscharakter „EXTRASOBER – Ein nüchterner Blick“ des Forums Prävention online. Auf www.extrasober.online zeigt die erste Online-Kunstaustellung die Schattenseiten des Alkohols, der wohl ältesten und beliebtesten Volksdroge auf. Unter dem Thema „eine ernüchternde Perspektive“ präsentieren 12 internationale Kunst- und Kulturschaffende sowie abstinente Personen Werke und Zeugenberichte, welche gegen die im Mainstream fest verankerte Trinkkultur ankämpfen. Unter der Kuration von Annika Terwey und Sophie Lazari will die Kunstausstellung eine umfassende Geschichte rahmen, welche den Betrachter die Wechselwirkung zwischen Rausch, Sucht, Krankheit, Leid und Macht näherbringt. (TL)
Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.