Was als Pilotprojekt in Schlanders vor einem Jahr gestartet ist, wird nun auch in Bruneck und Bozen fortgeführt.
Das Basisbildungsprojekt „Besser lesen und schreiben“ unterstützt deutschsprachige Südtiroler:innen mit Lese- und Schreibschwächen.
Rund 40.000 berufstätige Südtiroler:innen mit deutscher Muttersprache haben laut Studie (Quelle Prof. Sven Nickel, Professor für Schriftsprachenerwerb an der Uni Bozen) größere oder kleinere Probleme mit dem Lesen und Schreiben. Dies erschwert es ihnen, sich unabhängig in der heutigen Gesellschaft zu bewegen. Woran das genau liegt, ist nicht auf eine einzelne Ursache zurückzuführen. Gesellschaftliche, schulische und persönliche Faktoren führen dazu, dass sich jemand die Kernkompetenzen Lesen und Schreiben nicht aneignen kann. „Es ist eine falsche Schlussfolgerung, dass geringe Lese- und Schriftkompetenz mit mangelnder Intelligenz einhergeht. Sehr selten sind kognitive Gründe als Ursache zu nennen“, erklärt Sonja Logiudice vom Landesamt für Weiterbildung anlässlich der Pressekonferenz zum Pilotprojekt “Besser lesen und schreiben“, das ab Oktober, nicht nur in Schlanders, sondern auch in Bruneck und Bozen angeboten wird. Die Katholischer Verband der Werktätigen (KVW-Bildung) nimmt sich zusammen mit dem Amt für Weiterbildung dieser sozialen Aufgabe an.
Wie wichtig ist Bildung für eine Gesellschaft?
Claudia Hackhofer: Bildung ist für die Gesellschaft sehr, sehr wichtig, vor allem unter dem Gesichtspunkt des lebenslangen Lernens. Bildung ist die Grundvoraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben überhaupt teilnehmen zu können. Als Organisation ist es uns deshalb sehr wichtig, durch unsere Kurse und Projekte diese Teilhabe zu fördern und weiterzubringen. Die gesellschaftlichen Ansprüche ändern sich andauernd, deshalb ist es wesentlich sich auch als Erwachsener immer weiterzubilden. Ein Beispiel dafür wäre die Digitalisierung, die so rasant voranschreitet, dass es unabdingbar ist, sich immer wieder neu zu informieren, um mithalten zu können.
Wie kam es zum Projekt
„Besser lesen und schreiben“?
Vor einigen Jahren ist das Amt für Weiterbildung auf uns als KVW-Bildung zugekommen und hat uns auf das Thema aufmerksam gemacht. In anderen Ländern Europas, so etwa in Deutschland oder Österreich, werden schon seit Jahrzehnten Projekte zum Thema ‘Kompetenzen in lesen und schreiben‘ abgehalten. In Südtirol haben wir mit diesem Thema hingegen Neuland betreten, weil es in diese Richtung noch überhaupt kein Angebot gab. So sind wir nach der Vorarbeit im Herbst 2022 in Schlanders mit einem Pilotprojekt gestartet. Die Auswahl auf Schlanders ist deshalb gefallen, weil das Einzugsgebiet relativ klein ist und die Vernetzung Vorort gut funktionierte. Ziel war es, dieses Pilotprojekt dann auf andere Orte in Südtirol auszuweiten, was jetzt mit Bruneck und Bozen stattfindet. Die Evaluation des Projektes hat gezeigt, dass sich Bruneck und Bozen für Austragungsorte gut eignen.
Ab Oktober wird es das Angebot also auch in Bruneck und in Bozen geben?
Ja, nach dem Westen – das Angebot in Schlanders läuft diesen Herbst noch weiter – wollten wir eben auch die östliche Landehälfte und Bozen als Ballungszentrum ins Boot holen. Es hat sich bewährt, dass das Unterstützungsangebot einmal wöchentlich, immer um dieselbe Uhrzeit, im jeweiligen Sitz des KVW abgehalten wird. Es ist keine Anmeldung notwendig, jede:r, die:der Unterstützung sucht, kann einfach vorbeikommen und kostenlos daran teilnehmen.
Was ist mit “Basisbildung oder Grundbildung“ konkret gemeint?
“Basisbildung oder Grundbildung“ werden synonym verwendet und sind sozusagen ein Oberbegriff für die grundlegenden Kompetenzen, die Kinder in den ersten Jahren der Grundschule lernen: lesen, schreiben und rechnen, auch digitale Kompetenzen gehören heute dazu.
Wie viele Südtiroler:innen deutscher Muttersprache haben Ihrer Kenntnis nach größere oder kleinere Probleme mit dem Lesen und Schreiben?
In Südtirol gibt es keine eigene Studie darüber, weltweit gibt es zum Beispiel laut Unesco ca. 770 Millionen Menschen, die kaum lesen und schreiben können. In Deutschland geht man davon aus, dass 6,2 Millionen Erwachsene nicht ausreichend lesen und schreiben können und davon sind 40 Prozent einsprachig mit Deutsch aufgewachsen. Also wir sprechen hier nicht von Migranten und Migrantinnen, sondern von deutschsprachigen Erwachsenen. In Südtirol gibt es, wie erwähnt, keine vergleichbare Studie, aber wir haben uns die PIAAC-Studie (wurde von der OECD länderübergreifend durchgeführt) von Deutschland, Österreich und Italien angeschaut und diese zeigt, dass in Italien 27,7 Prozent der Erwachsenen eine auffallend niedrige Lesekompetenz haben. In Deutschland ist der Wert mit 17,5 Prozent etwas niedriger und in Österreich liegt er bei 15,3 Prozent. Durch diese Studie kann angenommen werden, dass in Südtirol jede:r zehnte Südtiroler:in betroffen ist, also insgesamt ca. 40.000 erwachsene Personen. Deshalb sind die Sensibilisierung und Endtabuisierung dieses Themas so wichtig.
Auf welche Entwicklungen führen Sie Lese- und Schreibschwierigkeiten bei Erwachsenen zurück?
Bei diesen Lese- und Schreibschwierigkeiten spricht man vom ‘funktionalen Analphabetismus‘, d.h. dass diese Menschen nicht Analphabeten sind, sondern bestimmte Funktionen nicht erreichen. Hier gibt es auch nicht nur eine Ursache, warum diese Erwachsenen diese Schwierigkeiten haben, sondern viele Faktoren. Meist ist das Zusammenspiel von mehreren ungünstigen, gesellschaftlichen und schulischen Faktoren für die Lese- und Schreibschwierigkeiten verantwortlich, sodass sich diese Person die Kernkompetenzen an Basisbildung nicht aneignen konnte. In den meisten Fällen handelt es sich hier um berufstätige Erwachsene, die in unterschiedlichen Wirtschaftszweigen arbeiten, aber dort häufig im Niedriglohnsektor als Hilfskräfte.
Im Vinschgau gab es eine Sensibilisierungsaktion auf Brotsäcken. Was ist im Pustertal diesbezüglich geplant?
Ja, genau! Auf den Brotsäcken war zu lesen: ‘Probleme mit dem Lesen und Schreiben? Du bist nicht allein! Das betrifft fast jede 10. erwachsene Person. Wir unterstützen, anonym, kostenlos.‘ Denn so wie das Brot ist auch das Lesen und Schreiben etwas Alltägliches. Solche Aktionen werden wir auch in Bruneck und Bozen Anfang 2024 starten, um zu sensibilisieren. Wir versuchen das Thema über verschiedene Kanäle unter die Menschen zu bringen. Es gab eine große Pressekonferenz in Bozen und die neue Vorstellung des Projektes in Bruneck. Geplant ist auch, dass auf den Bildschirmen in den Zügen in Südtirol auf das Bildungsangebot aufmerksam gemacht wird, dazu kommt ein Radiospot. Wichtig ist auch, dass nicht nur Betroffene, sondern auch Personen rund um diese, aufmerksam werden. Dazu wurde am 3. Oktober ein kostenloses online-Seminar angeboten, wo der Umgang mit deutschsprachigen Erwachsenen mit geringen Lese- und Schreibkompetenzen thematisiert wurde.
Was muss Ihrer Meinung nach noch an Sensibilisierungsarbeit geleistet werden, um dieses Thema breiter in unserer Gesellschaft aufzustellen?
Sicher ist bei diesem Tabu-Thema noch viel an Sensibilisierung zu leisten, damit es in der Gesellschaft ankommt. Sehr wichtig in der Kommunikation sind vor allem auch die Medien, die eine breite Masse erreichen. Deshalb: nicht müde werden darüber zu reden und zu berichten.
Pilotprojekt Schlanders
In Schlanders gib es seit einem Jahr eine Anlaufstelle für Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten. Basisbildungstrainerin Dr. Heike Walden-Pünsch hat gemeinsam mit einer Kollegin das Pilotprojekt „Besser lesen und schreiben“ in Schlanders in die Praxis umgesetzt und mit Betroffenen gearbeitet. „Eigentlich waren wir darauf eingestellt, dass es eine Weile dauert, bis sich jemand meldet, aber wir wurden freudig überrascht, als bereits bei der zweiten Sitzung eine Person gekommen ist, die dann auch über das ganze Jahr hindurch bis zum Juni den Kurs besucht hat“, erzählt Heike Walden-Pünsch. Laut Basisbildungstrainerin ist die Hemmschwelle, Unterstützung zu suchen, sehr hoch, vor allem deshalb, weil nach wie vor sehr wenig über dieses Phänomen gesprochen wird und sich die Betroffenen dahinter verstecken. In Schlanders haben insgesamt drei Menschen mit Lese- und Schreibschwierigkeiten das Angebot regelmäßig in Anspruch genommen. Wichtig war den Basisbildungstrainerinnen vor allem auf die Bedürfnisse der einzelnen Personen und ihren ganz unterschiedlichen Lernerfahrungen einzugehen. „Oft sind diese Lernerfahrungen schwierig und mühevoll gewesen und haben dementsprechend ihre Spuren hinterlassen. In einer freundlichen und geduldigen Lernatmosphäre kann das Lernen neu erfahren und gesehen werden. So kann langsam auch etwas wie Spaß an Lernfortschritten und Texten entstehen.“ Offenheit, Flexibilität und Vertraulichkeit der Trainerinnen stehen hier im Vordergrund des Lernkonzeptes. Auch die Betroffenen können gerne Materialien und Themen selbst mitbringen oder persönliche Anliegen besprechen, die in einer individuellen und vertrauten Atmosphäre behandelt werden. „Es darf Spaß machen und es dürfen auch Fehler gemacht werden, denn Fehler sind hilfreich beim Lernen. Alle Personen können kostenlos und ohne Anmeldung einfach vorbeischauen“, schließt Heike Walden-Pünsch.
TL
Info:
„Besser lesen und schreiben“ in Bruneck
An wen richtet sich das Angebot?
Das Angebot richtet sich an Erwachsene mit Deutsch als Muttersprache oder sehr gute deutschsprechende Menschen. An Personen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, denen das Lernen schwerfällt, sowie all jene, deren Schulbildung oder Ausbildung lange zurückliegt oder diese nicht beendet haben.
Das erwartet dich?
In der Lernberatung werden die Lese- und Schreibschwierigkeiten und evtl. Ursachen gemeinsam analysiert. Jeder Mensch hat ein anderes Lerntempo, andere Kompetenzen und unterschiedliche Stärken. Es werden die passenden Programme und Übungen ausgewählt, die die Lese- und Schreibfähigkeiten fördern. Die Übungen werden gemeinsam und auch individuell durchgeführt.
Die Kurse und Beratungen sind kostenfrei und es ist keine Anmeldung notwendig.
Wann und wo:
Bruneck: Dantestraße 1, 39031 Bruneck,
immer donnerstags von 16 – 18 Uhr, Beginn: 10. Oktober
Bozen: Pfarrplatz 31, 39100 Bozen,
immer dienstags von 16 – 18 Uhr, Beginn: 3. Oktober
Schlanders: Hauptstraße 131, 39028 Schlanders,
immer donnerstags von 16 – 18 Uhr, Beginn: 5. Oktober
Infos unter:
KVW Bildung Pustertal Tel. 0474 413 705