Der Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zeigen

Quelle: Edmund Nagler
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Der Fliege den Weg aus dem Fliegenglas zeigen

Bozen/Pustertal – Hannes Obermair ist Historiker und Forscher am Eurac Research Bozen. Zum Pustertal hat er einen familiären und emotionalen Bezug.

Herr Obermair, was reizt Sie, beruflich in die Vergangenheit einzutauchen und sich mit historischen Themen zu befassen?
Hannes Obermair: Nun, ich lebe ja in der Gegenwart, und denke gewohnheitsmäßig eher an die Zukunft, und dabei gar nicht so sehr an meine eigene. Ich habe dann aber oft das seltsame Gefühl, dass Vergangenheit in mich eintaucht – und nicht etwa ich in sie -, sich einfach ungefragt bei mir einnistet und freche Fragen stellt, die beantwortet werden wollen. Etwa: Warum ist alles, so wie es ist? Und könnte es nicht ganz anders sein? Im Kleinen das Große zu entdecken, war mir immer wichtig. Aber auch, das Große in seine Bestandteile zu zerlegen und scheinbare Gewissheiten ungewiss werden zu lassen.
Um etwas konkreter zu werden: Nimmst du beispielsweise den Ersten Weltkrieg als enormes Wirbelsturm- und Taifunthema, dann kommst du kaum mehr heraus. Die vorhandenen Selbstzeugnisse von Einzelmenschen innerhalb dieses Globalgeschehens machen dieses aber gleich viel anschaulicher und erzeugen jene Nähe, die zum Verständnis größerer Zusammenhänge wichtig ist.

Als Historiker weisen Sie auf bedenkliche politische Entwicklungen hin. Was lernt der Mensch aus der Geschichte?
Da bin ich sehr pessimistisch, obwohl nicht hoffnungslos. Wissenkönnen hat leider selten vor Irrtümern bewahrt, das Wissenwollen ist entscheidend. Wittgenstein hat es so formuliert: Ziel geistiger Arbeit müsse es sein, der Fliege den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. Wobei auch ich mich zu den Fliegen zähle.

Wie erklären Sie sich den aktuellen Trend zu extremen politischen Parteien, wo doch die Geschichte die katastrophalen Folgen aus der Vergangenheit aufzeigt?
Zweite Frage, aber schwer zu beantworten. Manche Fliegen bleiben eben gerne im Fliegenglas. Dort ist es übersichtlich, trotz Enge und Stickluft.

Zu Südtirol: Von Gaismair über Hofer bis zu den Puschtra Buibm gab es in Südtirol immer wieder Personen, die die Geschichte beeinflussten. Wie erklären Sie sich das?
Der Alltag ist stets mysteriöser als es die angeblich „großen“ Persönlichkeiten sind, Strukturen interessanter als ferne Personen, deren Innenleben wir nicht wirklich rekonstruieren können.
Und die in der Frage Genannten sind so sehr von Mythenbildungen überwuchert, dass die Aufgabe eines Historikers nur darin bestehen kann, den Blick freizumachen auf die Strukturen, die ihr Handeln bestimmt haben mögen. Bei Hofer etwa wäre es mir wichtig, auf die weitgehende Perspektivlosigkeit seines Weltbilds hinzuweisen und den „anderen“ Hofer, den NS-Exponenten Peter Hofer, nicht zu vergessen.

Sie haben Pusterer Wurzeln: Wie sehr hat Sie das Pustertal geprägt?
Mein Vater ist aus Sand in Taufers, aus Bad Winkel in Kematen. Als Kinder waren wir in den 1960er- und 70er-Jahren in den Sommermonaten stets in Sand, das hat Spuren hinterlassen, auch weil meine Eltern fünfmal übersiedeln mussten und für meine Geschwister und mich Sand und das Badl zum emotionalen Anker geworden sind. Geboren in Bozen, bin ich teilweise in Bruneck aufgewachsen und ab 1973 nach Bozen gezogen. Meine Frau ist aus Niederolang – ein Zufall, denn wir haben uns in Wien kennengelernt –, und so ist inzwischen für mich und für unsere eigenen Kinder Oaling zum wichtigen Bezugspunkt geworden und gleichsam an die Stelle von Taufers getreten.

Was ist Ihr Wunsch an die Welt?
An die Welt nicht, aber an Sand in Taufers, da ja nur Konkretes zählt und einen wirklichen Unterschied macht. Erstens würde ich mir wünschen, dass die ortsbildprägenden Posthäuser samt und sonders erhalten, behutsam saniert und aufgewertet werden – es gibt ja nur noch eine Handvoll von Altbauten in Taufers, was ich übrigens erschreckend finde. Zweitens rufe ich die Kommunalverwaltung dazu auf, sich endlich der beiden weithin vergessenen NS-Opfer Lorenz Steiner (1903–1942) und Anton Steiner (1905–1942) zu besinnen. Die beiden Brüder wurden in St. Moritzen geboren und sind später nach Lienz gezogen, wo sie, als Tischler tätig, aktiv Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben. Sie wurden bei einer Flugblattaktion von der Gestapo verhaftet, in das KZ Mauthausen deportiert und dort 1942 zu Tode gebracht. Es ist eine überfällige Bringschuld, dass in Sand in Taufers öffentlich und dauerhaft an sie erinnert wird.
IB