Der 4. Mai soll der Stichtag für die Lockerung der Ausgangsbeschränkungen in Italien sein. Seit beinahe zwei Monaten dürfen an die 60 Millionen Italiener ihr Zuhause nur unter strengen Bedingungen verlassen. Was macht diese Isolation mit uns Menschen? Diese Frage hat der der Psychologischen Psychotherapeutin DDr. Margarethe Mayr gestellt.
„Völlig ungeahnt sehen sich viele Menschen mit einer Vollbremsung aus der üblichen Routine geworfen und stehen vor der Herausforderung, das Leben neu zu ordnen“, sagt die Psychotherapeutin Margarethe Mayr aus Bruneck. Dieser Situation kann die Fachfrau positive wie negative Aspekte entnehmen. „In meiner Online Beratung beobachte ich, dass eine Vielzahl an Personen sehr gut mit der neuen Situation zurechtkommt. Endlich haben wir Zeit und kommen zur Ruhe so ganz unter dem Motto weniger ist mehr.“ Andererseits könne die Neuorganisation der Arbeit im Home-Office bei paralleler Heimbeschulung der Kinder, der Wegfall vieler ausgleichender Freizeitaktivitäten und eine Beschränkung des Aktionsradius auf die eigenen vier Wände Familien und Paare vor enorme Herausforderungen stellen, erklärt die Psychotherapeutin. Wie die neue Situation erlebt wird hänge laut Mayr von äußeren und inneren Faktoren ab. So würden enge Lebensräume und finanzielle Sorgen die Thematik verschärfen. Auch Konflikte, die schon vorher innerhalb der Familie da waren, würden die Belastung erhöhen, entscheidend sei auch die Familienkonstellation. Tot und Krankheit sind laut der Psychotherapeutin in so einer Ausnahmesituation, wo Angehörige den Kranken nicht begleiten und nicht verabschieden können, nochmal ein sehr spezielles Thema. Die grundsätzliche psychische Stabilität jedes einzelnen ist ebenfalls entscheidend, wie die Situation gemeistert wird. „Sicher ist, dass wir nicht alle in demselben Boot sitzen“, unterstreicht die Fachfrau. Soziologisch betrachtet seien wir eine modere Optimierungsgesellschaft, die auf Genuss und Unterhaltung getrimmt ist und keine Erfahrung mit dem Zuhausebleiben und mit Stille hat, sagt Mayr. Ruhe und Stille könnten wir nicht mehr aushalten.
Kollektive traumattische Krise
Doch nicht nur an das Leben Zuhause, sondern auch außerhalb müssen sich die Menschen an neue Verhaltensregeln gewöhnen. Viele Menschen fühlen sich in dieser Krise unsicher und beobachtet. „Wir befinden uns ganz klar in einer Krise, wir stecken mittendrin. Der schwedische Psychiater Johan Cullberg (1978) definiert eine Krise als ‘Verlust des seelischen Gleichgewichts wenn wir mit Ereignissen oder Lebensumständen konfrontiert werden, die wir im Augenblick nicht bewältigen können‘. Laut Cullberg sprechen wir nun von einer kollektiven traumattischen Krise.“ Für Krisen hätten wir laut Expertin aber kein Konzept. „Es ist auch schwer über ein Phänomen zu sprechen für das wir noch keine Strategie haben. Es gibt keine verlässlichen Prognosen. Mit Wahrscheinlichkeiten kommen wir schwer zurecht“, hält Mayr fest. So entstehe eine kollektive Angst und Unsicherheit, die wir nie erlebt hätten. „Social Distancing führe zu einem kollektiven Misstrauen. Das Fremde macht den Menschen seit jeher Angst. Das Misstrauen gegenüber Menschen die wir nicht kennen, kann auch in Fremdenfeindseligkeit ausufern, indem das Bedrohliche an der betreffenden Person festgemacht wird. Social Distancing ist gegen die Natur, denn in bedrohlichen Situationen würde der Mensch eigentlich näher zusammenrücken“, erklärt die Psychotherapeutin.
(TL)
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