“Es ist ein Geschenk, dass ich mich bei meiner Arbeit Menschen mit Beeinträchtigung widmen darf.“
Seit 40 Jahren arbeitet Hans Kirchler als Arbeitserzieher mit Menschen mit Beeinträchtigung. Dem baldigen Ruhestand sieht er mit einem etwas weinenden Auge entgegen, zu sehr sind ihm diese Menschen ans Herz gewachsen.
Warum entschieden Sie sich, Ihren Arbeitseinsatz Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu widmen?
Ich wurde am 11.11.61 als Elfter von 11 Kindern um 11 Uhr in St. Johann in Ahrntal geboren; geheiratet habe ich übrigens am 11.11.2011 um 11.11 Uhr – aber dies nur als Kuriosität am Rande. Einer meiner Brüder hat eine Beeinträchtigung, weshalb ich schon früh Verständnis für seine Bedürfnisse erfuhr. Mein Vater war Drechsler, Fassbinder und Schreiner und arbeitete in seiner Werkstatt zusammen mit meinem Bruder Klaus. Dabei gaben sie mir die Liebe zur Holzbearbeitung weiter und so lernte ich an der Schnitzschule St. Jakob das Schnitzhandwerk. Danach kamen mehrere Zufälle ins Spiel: Ein benachbarter Busfahrer lud mich 1981 ein, Menschen mit Beeinträchtigung von deren Meerurlaub abzuholen. Mein erster Zugang zu einem Bus voll dieser Menschen war sehr positiv. Bald darauf wurde eine Lehrstelle im Holzsektor für Menschen mit Beeinträchtigung frei, die ich annahm. Die Betreuung als Arbeitserzieher fand anfangs in der Berufsschule statt, dann im Josefsheim und im Sozialzentrum Trayah. Ich lehrte Schnitzen und Drechseln. Im Herbst 2009 bot sich eine Stelle an der Geschützten Werkstatt in Mühlen in Taufers an. Ich sah für mich eine neue Herausforderung und erhielt die Leitung im Holzbereich. Im Jänner 2010 übernahm ich dann die gesamte Leitung der Struktur in Mühlen.
Wie gehen Sie vor, Menschen mit Beeinträchtigung ein Handwerk zu lehren?
Es braucht die Liebe zum Beruf und einen gesunden Hausverstand. Wesentlich ist, sich in die Rolle der Betreuten versetzen zu können und ihnen so entgegentreten, wie ich selbst behandelt werden möchte. Umgekehrt können wir viel von ihnen lernen, in der Wertschätzung von (für uns selbstverständlichen) Dingen oder kleinen Erfolgserlebnissen. Die Betreuten geben mir wirklich viel, allein, wenn ich ihre strahlenden Augen sehe, wenn sie sich über Geleistetes freuen. Seit 40 Jahren gibt es keinen einzigen Tag, an dem ich ungern zur Arbeit gegangen wäre. Es ist ein sehr wertvoller Beruf und es bedeutet für mich Genugtuung und Bereicherung, diese Menschen begleiten zu können.
Ist es nicht gefährlich, Menschen mit Beeinträchtigung ein Werkzeug in die Hand zu geben?
Es geht um die Einschätzung von deren körperlichen und geistigen Fähigkeiten. Wenn aus Angst vor Konsequenzen alles abgeblockt wird, kann man nichts lernen. Menschen mit Beeinträchtigung werden langsam an das Handwerk herangeführt und auf die Gefahren und Sicherheitsvorkehrungen aufmerksam gemacht. Im Lernprozess eingebunden ist auch das Nachahmen von dem, was wir ihnen zeigen bzw. vorleben. Es sind überaus talentierte Leute dabei. Sie arbeiten mit Ausdauer und Präzision und erfahren Erfüllung und Genugtuung, wenn sie ein gelungenes Produkt in den Händen halten. Das ist für die Betreuten ein enormes Erfolgserlebnis.
Worin besteht der Arbeitsbereich der Betreuten?
Aktuell betreuen wir 17 Menschen zwischen 18 und 55 Jahre. Neben der Herstellung von Holzfiguren beschäftigen wir sie mit Malen von Bildern oder Billetts, der Herstellung von Modeschmuck oder der Kerzengießerei. Zudem bieten wir ergänzende Tätigkeiten an, wir gehen schwimmen, wandern, rodeln oder machen Ausflüge. Und ich werde nicht müde, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, damit die Bevölkerung erkennt, was diese Menschen leisten. Wir stellen Dekorationen für Hotels oder Tischschmuck für Hochzeiten oder Feiern her. Wir führen auch Verpackungen und Serienarbeiten für Industriefirmen aus, wo Null-Fehlerquote garantiert werden muss. Meine Aufgabe sehe ich auch darin, einzelne Betreute auf die Arbeitswelt vorzubereiten und ihnen eine Stelle in einem Handwerks- oder Industriebetrieb zu vermitteln.
Wie bewältigen die Betreuten die Corona-Zeit?
2020 hatten wir einige Monate zu, damit kamen einige Betreute nicht gut zurecht und freuten sich auf die Wiederöffnung der Werkstatt unter Einhaltung der Vorsichtsmaßnahmen. Was fehlt, sind gemeinsame Freizeitaktivitäten und vor allem körperliche Nähe wie eine Umarmung, die für Betreute sehr wichtig ist.
Was wünschen Sie sich?
Italien hat die UN-Konvention gleiche Rechte für Menschen mit Beeinträchtigung unterschrieben. Mein Wunsch wäre es, dass diese viel mehr gelebt, und dass für diese Menschen auch verschiedene Wohnformen angeboten werden, vor allem im Tauferer Ahrntal. Generell wünsche ich mir, dass die Struktur in Mühlen gut weiterläuft und dass die Akzeptanz der Bevölkerung wie bisher so gut bleibt. Im baldigen Ruhestand habe ich mehr Zeit für meine Familie und meine Hobbys. Darauf freue ich mich. (IB)
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