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Unsichtbare Barrieren und viel Unsicherheit

Bruneck – Bereits seit 1992 führt der Verein Lebenshilfe – Onlus im Auftrag der Bezirksgemeinschaft Pustertal die Tagesstätte für Menschen mit Autismus in Bruneck und kümmert sich dort um zwölf Betroffene. Ein Gespräch mit der Leiterin der Tagesstätte, Hildegard Kaiser.

PUSCHTRA: Frau Kaiser, wie würden Sie Autismus sehr kurz und einfach beschreiben?
Hildegard Kaiser: Das ist schwierig, weil jeder Mensch mit Autismus auf seine ganz individuelle Art und Weise anders ist, weil sich Symptome bei jedem verschieden ausgeprägt zeigen. Die meisten Menschen assoziieren mit dem Begriff Autismus einen vielleicht etwas komisch wirkenden Menschen mit einer Inselbegabung. Autismus ist aber ein Sammelbegriff für viele verschiedene tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Autismus-Spektrum-Störungen, ASS).

Hildegard Kaiser, die Leiterin der Tagesstätte für Menschen mit Autismus.

Wo gibt es bzw. was sind die größten Schwierigkeiten für Menschen mit Autismus in unserer Gesellschaft?
Es gibt für Menschen mit Autismus eine Vielzahl an Stolpersteinen und Barrieren im Alltag. So kann ein Fußboden mit einem auffälligen Muster manche schon so stören, dass es ihnen unmöglich ist, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Das größte Defizit haben Menschen mit Autismus meistens im Freizeitbereich, weil die Überlegung „was mach ich gerne“ sehr schwer fällt.

Wie ist das Arbeiten mit Menschen mit Autismus? Was machen Sie in der Tagesstätte?
Die Arbeit mit unseren Klientinnen und Klienten ist sehr individuell auf jede/n einzelne/n abgestimmt. Es geht um Alltagsgestaltung, Beschäftigung und lebenspraktische Sachen.

Wo gibt es Schwierigkeiten im Umgang mit Menschen mit Autismus?
Soziale Regeln und der Umgang mit anderen überfordern Menschen mit Autismus meist sehr. Es ist sehr wichtig, im Umgang mit Betroffenen eine klare Sprache zu finden. Man muss aufpassen, wie und was man sagt. Sie tun sich schwer Emotionen zu verstehen und auch zu zeigen, sie können an der Mimik der Mitmenschen nichts ablesen.

Wie kann die Gesellschaft helfen, was kann jeder einzelne tun?
Der Gesellschaft fehlt größtenteils das Verständnis. Menschen sind unsicher und haben oft auch Angst. Autisten haben ein individuell unterschiedlich ausgeprägtes Bedürfnis nach Körperkontakt. Einerseits nehmen manche mit fremden Menschen direkten und teils sozial unangemessenen Kontakt auf, andererseits meiden viele aber auch Körper- und Blickkontakt. Wenn wir mit unserer Gruppe in der Öffentlichkeit unterwegs sind, dann spüren wir oft Überforderung der Mitmenschen. Die Gesellschaft muss wissen, was Autismus ist und sich darauf einlassen. Es braucht einfach mehr Verständnis.

Was kann die Politik, das öffentliche System tun? Wo gibt es Aufholbedarf?
Ein wichtiger Schritt ist die Realisierung von Wohngemeinschaften für Betroffene, wie das Wohnhaus, welches von der Bezirksgemeinschaft Pustertal heuer im Josefsheim eröffnet werden wird. Ganz wichtig wäre zudem, Betroffene bereits sehr früh in Strukturen unterzubringen. So bräuchte es zum Beispiel dringend Nachmittagsangebote für junge Menschen mit Autismus. Auf der einen Seite wäre das eine notwendige Entlastung für die Eltern, auf der anderen Seite eine wichtige Stütze für die Betroffenen selbst, um die besten Voraussetzungen für eine gute Entwicklung zu schaffen und eine gewisse Kontinuität zu haben, welche für Betroffene besonders wichtig ist. Das bestehende Angebot von Strukturen ist zum größten Teil bereits ausgelastet, so haben junge Betroffene keine Chance, frühzeitig einen Platz zu bekommen. Das ist ein großes Problem und hier ist die Politik gefordert. (bzg/red)