Depression, Psychosen, Burnout & Co.

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Depression, Psychosen, Burnout & Co.

Psychische Erkrankungen sollen seit Jahren zunehmen. Längst seien Depressionen, Burnouts und andere seelische Störungen öfter die Ursache für Krankenhausaufenthalte als Herzinfarkte oder Rückenleiden, so Experten. Realität oder Mythos vom Massenleiden, unbestritten ist, dass psychische Erkrankungen nach wie vor mit Scham besetzt sind. Unwissenheit, Vorurteile und Ängste führen zu Stigmatisierung. Insbesondere langfristig Erkrankte fallen viel zu oft aus dem sozialen Leben heraus.

„Seelische Erkrankungen sind zwar inzwischen etwas ‚gesellschaftsfähiger‘ geworden, dennoch lässt sich noch eine Sprachlosigkeit feststellen und wer psychisch krank ist, wird oft nicht für voll genommen. Die Betroffenen haben den Eindruck, dem vermeintlichen gesellschaftlichen Ideal nicht zu entsprechen und andererseits machen sie noch oft die Erfahrung, im gesellschaftlichen Leben keinen Platz zu haben und gemieden zu werden“, beschreibt Gottfried Ugolini, Priester und Psychologe, die Tatsache, dass psychische Erkrankungen auch in unserer modernen und aufgeklärten Gesellschaft noch immer mit Scham besetzt sind, und dabei sei unsere seelische Verletzbarkeit deutlich angestiegen. „Die häufigsten psychischen Störungen sind nach wie vor Angststörungen, Alkoholabhängigkeit und Depressionen. Seit einigen Jahren ist zu beobachten, dass vor allem Depressionen stetig zunehmen und deutlich mehr als zehn Prozent der Menschen im Laufe ihres Lebens davon betroffen sind. Angst kennen wir alle. Es ist eine wichtige, den Menschen schützende Reaktion auf Gefahren. Wenn sie aber ein normales Maß übersteigt, uns einschränkt und losgelöst von tatsächlicher Gefahr auftritt, wird sie zur Störung und kann irgendwann in der Angst vor der Angst selbst gipfeln“, expliziert Andreas Huber, Direktor des Psychologischen Dienstes im Krankenhaus Bruneck. Als weltweit häufigste psychische Störung nennt Roger Pycha, Primar er Psychiatrie am Krankenhaus Bruneck, die Angststörung, wo hingegen die bedeutsamste die Depression sei: „Die Depression ist heute die zweitwichtigste aller Krankheiten auf unserem Globus.“

NAGT DER STEIGENDE WOHLSTAND?
„Der steigende Wohlstand ist sehr einseitig und erreicht lange nicht alle. Dass heute Gemütserkrankungen und seelische Störungen zunehmen, hat mit dem heutigen Lebensbedingungen und dem Zeitgeist zu tun. Die menschliche Seele ist gegenüber dem modernen Lebensrhythmus, den persönlichen Ansprüchen und gesellschaftlichen Anforderungen kaum mehr widerstandsfähig. Dem andauernden Leitungs-, Konsum- und Zeitdruck hält sie nur schwer stand. Die auch medial vorgegaukelte Wohlstandsgesellschaft ist in Wirklichkeit eine ernste Gefahr. Die Seele ist vielfach überfordert, verstopft und gelähmt. Die Zeit zur Muße und zum Austausch kommt zu kurz. Das wirkt sich auch auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen aus, denen wir immer mehr Bedeutung und Wert absprechen. Die sogenannte Ich-betonte-Gesellschaftskultur führt zu einer Schwächung von Grundwerten wie Liebe, Treue, Respekt, Verantwortung, Gerechtigkeit, Solidarität, Toleranz, Versöhnung und Hoffnung“, ist Ugolini überzeugt. Pycha bestätigt Erschöpfungsdepressionen und Angststörungen als Wohlstandsphänomene, die durch die moderne Leistungsgesellschaft, den rasenden Rhythmus und das Multitasking gefördert werden: „Sie kommen in Großstädten häufiger vor als auf dem Land. Und selbstverständlich bringt die Informationsgesellschaft neue Störungsbilder wie das Hikikomori-Syndrom hervor. Dabei handelt es sich um erstmals vom Japaner Seitao beschriebene Verhaltensweisen, bei denen Jugendliche sich komplett zurückziehen, den Mahlzeiten fernbleiben, die Nacht zum Tage machen und nur noch Internetkontakte zur Außenwelt halten.“ Unsere digitale Gegenwart nennt auch Huber als indirekten Förderer von psychischen Störungen: „Die digitalen Medien laden ein, uns selbst in perfekter Weise darzustellen. Diese Bilder werden zum Maßstab, an dem wir uns untereinander wieder vergleichen. Erwartungen und Ansprüche werden so in die Höhe getrieben und manch einer oder manch eine zerbrechen an ihrer Unerfüllbarkeit.“

KRANK DURCH RELIGIÖSE FAKTOREN
„Krankmachende Gottesbilder wie die Angst vor einem strafenden Richtergott, vor einem Buchhaltergott, bei dem ich immer in Schuld bin, sowie die Vorstellung von einem Gott, der alles, was mit Lebensfreude verbunden ist, verbietet, können eine psychische Erkrankung auslösen. Eine weitere spirituelle Ursache kann darin bestehen, dass überbetonte und einseitig vermittelte Glaubensinhalte z.B. zu einer Abwertung bzw. negativen Sicht der menschlichen Sexualität und der damit zusammenhängenden Gefühlen beitragen. Dies hat zu belastenden bis traumatisierenden Scham- und Schuldgefühlen geführt, unter denen Menschen Zwänge, Depressionen, Verfolgungswahn entwickelt haben. Des Weiteren kann eine gewisse Leistungsmoral angeführt werden, die das Gewicht darauf legte: Erst wenn du so viel betest oder vergibst oder Gutes tust, bist du Gottes würdig. Auch eine einseitige Überbetonung der Nächstenliebe ohne erkennbaren Bezug zur Gottesliebe und weit davon entfernt, wenn überhaupt noch im Blick, zur Selbstliebe, führt zu seelischen Beulen und Selbstwertverlusten“, so Ugolini.

BERUFLICH AUSGEBRANNT
„Burnout ist keine ärztliche Diagnose. Das berufliche Ausgebranntsein stellt vielmehr einen Risikofaktor dar, auf dessen Boden Folgestörungen sehr häufig sind, wie zum Beispiel Angststörungen, Depressionen, psychosomatische Erkrankungen, Suchterkrankungen oder Infektionen. Burnout führt also sehr häufig in die Krankheit, ist aber selbst keine“, verdeutlicht Pycha mit Hinblick auf den allgemeinen Trend, dass immer mehr Menschen aufgrund ihres Berufs unter Erschöpfung leiden.Beim Burnout scheint es so zu sein, dass die Häufigkeit dieses Phänomens besonders in den Jahren zwischen 2000 und 2010 zugenommen hat und jetzt wieder etwas stagniert. Die Kriterien für ein Burnout sind nicht einheitlich definiert, trotzdem sind einige Kernsymptome besonders häufig beschrieben, so z. B. Lustlosigkeit, Gereiztheit, Versagensängste, Interessensverlust am Beruf, Konzentrations-, Motivations- und Schlafprobleme, Stimmungsschwankungen und körperliche Beschwerden. Viele Menschen berichten, sie seien andauernd erschöpft und nicht mehr in der Lage sich zu regenerieren. Zeichen von chronischer Überlastung sind inzwischen immer öfter auch bei Kindern und Jugendlichen feststellbar. Wie eine Studie der UNI Bielefeld erst kürzlich ergab, trifft dies auf nahezu ein Fünftel der Jugendlichen zu“, führt Huber an und erwähnt auch, dass man Depressionen mittlerweile oft als Burnout bezeichne, da dies als weniger stigmatisierend empfunden und leichter akzeptiert werde.

MEDIKAMENTENVERBRAUCH
Italienweit habe Südtirol den geringsten Medikamentenverbrauch, so Pycha, „allerdings ist der Verbrauch von Antidepressiva relativ hoch, der von Beruhigungsmitteln niedrig. Das ist genau das, was wir möchten: Gezielte Behandlung von bestimmten Störungen statt einer unklaren Beruhigung oder Dämpfung.“ Eine Krankenhausaufnahme sei immer dann nötig, wenn es um Leben oder Tod gehe, „oder wenn ambulante Behandlungsversuche nicht gefruchtet haben und intensivere Therapien notwendig werden. Sehr selten müssen Betroffene gegen ihren Willen behandelt und aufgenommen werden, das sind im Pustertal nur 1,5 Prozent aller Aufnahmen an der Abteilung Psychiatrie“, bestätigt Pycha und ergänzt: „Wir gehen davon aus, dass in Südtirol durchschnittlich 50-60 Personen jährlich an Suizid versterben. Die letzte Statistik nach Bezirksgemeinschaften aus dem Jahr 2003 sieht das Pustertal ganz besonders gefährdet, gemeindemäßig sind es das Ahrntal und das Gadertal, die damals sehr viele Opfer zu beklagen hatten. Leider musste unsere Suiziderhebung 2010 beendet werden, deshalb verfügen wir über keine genauen aktuellen Daten. In Südtirol waren ca. 70 Prozent aller Suizidopfer psychisch krank, 50 Prozent litten an Depressionen. In verschiedenen anderen Studien sind es bis zu 95 Prozent aller Suizidopfer, die an psychischen Störungen leiden.“

DISKRIMINIERT UND AUSGEGRENZT
„Für die meisten Menschen ist es leichter, eine körperliche Erkrankung zu akzeptieren und darüber zu reden. Bei psychischen Schwierigkeiten ist dies immer noch schwieriger. Die Ursachen sind vielschichtig: Wenn man von persönlicher Schwäche oder eigenem Verschulden ausgeht, ist die Akzeptanz einer Erkrankung sicherlich schwerer. Auch der Umstand, dass man das menschliche Verhalten und Erleben im Rahmen einer Störung nicht verstehen kann, führt dazu, dass man sich eher davon distanziert. Dennoch ist in Verständnis und Akzeptanz von psychischen Störungen heute eine Veränderung zu spüren. Immer mehr Menschen legen die Scheu ab, erkennen Störungen, Probleme und Krisen an und nehmen professionelle Hilfe in Anspruch. Dass Betroffene trotzdem Wert auf Diskretion legen, finde ich legitim. Das ist gesunde Grenzziehung und Eigenschutz und darf nicht mit falscher Scham oder dem Unvermögen bestimmte Realitäten anzuerkennen verwechselt werden“, präzisiert Huber. „2005 in Helsinki hat die WHO klar formuliert: Gleiches Recht für psychisch wie für körperlich Kranke. Also Recht auf Schutz, Beistand, Verständnis, Hilfe. In Wirklichkeit sind wir gesellschaftlich Horden von Jungsteinzeitmenschen, die Gerüchten und Vorurteilen nachhängen, als ginge es ums Überleben. Die Klarheit des Verstandes und die Offenheit und Toleranz, auf sehr verschiedenartige Menschen zuzugehen, sind noch Mangelware. Aber ein Gedanke kann helfen: Etwa 50 Prozent aller Menschen erleben selbst eine psychische Störung. Es kann mich also sehr leicht selbst treffen. Besser ich behandele eine Gruppe respektvoll, zu der ich auch ganz leicht gehören kann“, gibt Pycha zu bedenken.

ZURÜCK INS LEBEN HOLEN
„Eine Gesellschaft, die die seelisch Kranken und Leidenden in ihre Mitte rückt, steht dazu, dass jeder Mensch gebrechlich und trotzdem wertvoll ist und bleibt. Gesundheit ist nicht die Abwesenheit von Krankheit. Gesundheit heißt dem Leben zu trauen und daraus das Beste zu machen, selbst wenn es Einschränkungen, Behinderungen, Schmerzen und Leiden gibt. Eine Gesellschaft, die den Schwächsten Platz gibt, bleibt menschlich“, betont Ugolini. Die Tatsache, dass es häufig schwieriger sei, psychisch Kranke in Behandlung wieder in den Berufs- und Familienalltag zu integrieren, begründet Pycha: „Das hat mit der Instabilität und der Unsichtbarkeit der Beschwerden zu tun. Depressionen können vollständig ausheilen aber auch immer wieder kommen, Schizophrenien können nach jedem Schub, nach jeder akuten Erkrankung mehr Verhaltensschwierigkeiten hinterlassen, und Ängste oder psychosomatische Störungen sind oft für Außenstehende unsichtbar, betreffen nur das Innenleben der Betroffenen. All das macht es nicht leicht, den Erkrankten und Genesenden einen guten Platz im Berufs- und Sozialleben zu sichern. Dazu ist viel Verständnis der Umwelt nötig.“

SPIEGEL DER GESELLSCHAFT
„Seelische Erkrankungen sind oft ein Spiegel wie es einer Gesellschaft geht, wie es um ihre Gesundheit und um ihr Wohlergehen bestellt ist. Je ich-betonter Menschen leben, desto verletzlicher werden sie. Menschen, die dem Leben gegenüber eine pessimistische Einstellung haben, die die Welt vorwiegend negativ sehen, sind eher gefährdet, seelisch zu erkranken“, ist Ugolini überzeugt und Pycha betont: „Ein glückliches Leben schützt vor psychischen Krankheiten. Glück ist etwas Subjektives, das ich mir selbst mehr erarbeite, als dass es mir in den Schoß fiele.“ (SP)

Roger Pycha, Primar der Psychiatrie Krankenhaus Bruneck: „Seelische Beschwerden gezielt behandeln streben wir an.“

Gottfried Ugolini, Priester und Psychologe: „Seelisch kranke Menschen in ihrer Würde anerkennen.“

Andreas Huber, Direktor des Psychologischen Dienstes Krankenhaus Bruneck: „Wunsch nach Diskretion nicht mit falscher Scham verwechseln.“