Es gibt wohl kaum einen komplexeren Sachverhalt wie Wahlsysteme. Die Gesamtheit der Regeln, welche innerhalb eines Wahlprozesses bestimmen, wie die Wähler ihre Partei- und Kandidatenpräferenz in Stimmen ausdrücken und wie diese in Mandate übertragen werden, sind für Laien kaum zu durchschauen. Erst recht nicht mehr, wenn sich die verschiedenen Parteien in Detaildiskussionen verlieren. In Südtirol steht die Behandlung des neuen Landeswahlgesetzes an. Es ist durchaus wichtig, dass man sich darin zurechtfindet, schließlich geht es um die eigene Zukunft in unserem Land.
Eigentlich könnte Südtirol bereits seit Jahren über ein neues Landeswahlgesetz verfügen. Der Staat hatte mit der Verfassungsänderung des Jahres 2001 alle Voraussetzungen dafür geschaffen. „Die Trentiner wählen ihren Landtag schon seit 2003 mit ihrem Landesgesetz. Ich werte die diesbezügliche Verzögerung in Südtirol so, dass die SVP eine Konfrontation im Landtag bisher gescheut hat bzw. immer damit spekulierte, ein Gesetz durchzubringen, das der eigenen Partei den größten Profit beschert“, vermutet Lois Taibon, Freiheitlicher Bezirksobmann im Pustertal. Die doch inzwischen auffällige Verzögerung kommentiert Bernhard Zimmerhofer, Landtagsabgeordneter der Süd-Tiroler Freiheit (STF), mit den Worten: „Solange die SVP die absolute Mehrheit halten konnte, war ein neues Wahlgesetz uninteressant, deshalb wohl die Verzögerung.“ Auch die Grüne Ratsfraktion spricht davon, dass man in Südtirol einerseits zwar den Anspruch habe, „die autonomste Provinz Italiens“ zu sein, man sei aber bis heute nicht imstande gewesen, ein eigenes Landeswahlgesetz zu verabschieden. „Man ist sich – was die Ausarbeitung eines neuen Landeswahlgesetzes betrifft – offensichtlich weder innerhalb der SVP noch zwischen den Parteien einig. Es sollte aber generell nicht zu viel und nicht ständig an den Wahlgesetzen herumgebastelt werden, nur weil man sich kurzfristig vielleicht Vorteile verspricht. Ein Wahlgesetz sollte möglichst einfach und klar sein“, ist Hanspeter Niederkofler, Brunecker Franktionssprecher der Grünen, überzeugt.
VERFASSUNGSÄNDERUNG 2001
Mit dem Verfassungsgesetz 2001 wurde jener Teil, der die Zuständigkeit von Regionen, Provinzen und Kommunen regelt, vollständig reformiert. Seitdem sind der Trientner und der Südtiroler Landtag nicht mehr Teile des Regionalrats, vielmehr setzt sich umgekehrt der Regionalrat aus den beiden Landtagen zusammen. „Die beiden Landtage werden direkt gewählt und damit ist die Zuständigkeit über die Regelung der Wahl von der Region auf die beiden Länder übergegangen. Das Trentino hat in der Folge sofort reagiert und sich ein neues Landeswahlgesetz geschneidert. Dort hat man sich für eigene Regelungen entschieden und etwa die Direktwahl der Landeshauptfrau/des Landeshauptmannes oder die Koalitionsbildung rund um den oder die LH-Kandidat/in eingeführt“, zitiert Niederkofler aus einer Presseaussendung der eigenen Partei. „Die Bedeutung des neuen Landeswahlgesetzes besteht in erster Linie darin, dass der Südtiroler Landtag die entsprechende, bereits im Jahre 2001 zuerkannte Gesetzgebungskompetenz erstmals ausübt. Nachdem bisher immer aufgrund eines entsprechenden Regionalgesetzes gewählt wurde, ist es höchst an der Zeit, dass es nun eine eigene landesgesetzliche Regelung gibt“, gesteht auch der Pustertaler SVP-Bezirksobmann, Meinhard Durnwalder, die Dringlichkeit der Sachlage. „Bisher kam aus parteipolitischen Erwägungen kein substantielles Wahlgesetz zustande und für die Landtagswahlen 2003, 2008 und 2013 wurde mit einem ‚technischen‘ Wahlgesetz auf der Grundlage eines alten Regionalgesetzes aus dem Jahr 1983 gewählt. Diese Situation kann fast als anachronistisch bezeichnet werden“, so Taibon.
ERSTER GESETZENTWURF
Am heurigen 16. Januar hat die SVP ihren ersten fertigen Gesetzentwurf für ein neues Landtagswahlgesetz hinterlegt, der einen Monat später, am 16. Februar, in der zuständigen Ersten Gesetzgebungskommission zur Diskussion stand. Die Mitglieder der Ersten Gesetzgebungskommission sind: SVP-Abgeordneter Sepp Noggler, Süd-Tiroler Freiheit-Abgeordnete Miriam Atz Tammerle, Freiheitliche-Abgeordnete Ulli Mair, SVP-Abgeordnete Veronika Stirner, SVP-Abgeordnete Magdalena Amhof, SVP-Abgeordneter Christian Tschurtschenthaler, Grüne-Abgeordnete Brigitte Foppa, SVP-Abgeordneter Philipp Steger, L’Alto Adige del cuore- Abgeordneter Allessandro Urzì. Der Vorwurf des „maßgeschneiderten SVP-Wahlgesetzes“ ließ nicht lange auf sich warten. „Es liegt in der Natur der Sache, dass die SVP angesichts der sinkenden Wählergunst versucht, ihren Mandatstand trotzdem zu halten, und das geht am besten über ein neues ‚zurechtgeschneidertes‘ Wahlgesetz. Dafür werden sie aber keine notwendigen Mehrheiten finden“, mutmaßt Zimmerhofer. Deutlicher führt Taibon an: „Der von der SVP eingebrachte Entwurf hatte das klare Ziel, die SVP in jeder Hinsicht zu bevorzugen. In der zuständigen Kommission wurde zugleich auch unser Gesetzentwurf behandelt und schlussendlich hat die SVP viele ihrer Forderungen zurückgenommen.“ Durnwalder nennt hier konkret: „Die SVP wollte ursprünglich die Direktwahl des Landeshauptmannes einführen, dies schien mir in Wahrheit vom Wähler gewollt. Hier hätte die SVP wohl eher auf dessen Wunsch reagiert, als sich ein System zurechtzuschneidern. Als zweiter Punkt sollte das System der Berechnung der jeden Liste zustehenden Sitze korrigiert werden, und zwar jedenfalls im Rahmen des Verhältniswahlsystems. Schließlich sollte für die ladinische Sprachgruppe eine rechtlich garantierte Vertretung im Landtag geschaffen werden. Es wurden die ersten beiden Vorschläge aus dem Entwurf gestrichen. Für die Direktwahl des Landeshauptmannes braucht es im Landtag die Zweidrittelmehrheit. Diese war nach den Konsultationen mit der Opposition nicht zu erwarten. Für die Korrektur des Sitzzuteilungssystems hatte die Opposition bereits im Vorfeld ein Referendum angekündigt.“
KONKRETE KRITIKPUNKTE
„Für uns ist die Direktwahl des Landeshauptmannes von zentraler Bedeutung. Alt-LH Durnwalder hat dafür ebenso immer ein gewisses Interesse bekundet. Seine Partei weniger. Die Angst, mit der Direktwahl Listenstimmen zu verlieren, war größer. Weshalb sich die SVP auch jetzt dagegen aussprach. Wir verlangen künftig auch die Offenlegung der Postanschriften der Auslandssüdtiroler für alle Parteien, die Abschaffung der Frauenquote und die unbedingte Reduzierung der von der SVP geforderten 24 Kandidaten für die Erstellung einer Liste. Dafür reichten bisher immer drei Kandidaten. Das ist eine kleine Gruppierung und durchaus in Ordnung“, argumentiert Taibon. Die STF äußerte Kritik am SVP-Vorhaben, die Landesregierung auf elf Mitglieder aufzustocken, so Zimmerhofer: „Diese Möglichkeit sieht die SVP in ihrem Entwurf vor. Wir bekräftigt hingegen die Forderung die Anzahl auf sieben Mitglieder, einschließlich LH, zu reduzieren. Die Direktwahl des LH ist ebenso eine unserer Forderungen wie die Beibehaltung der alten Regelung zur Frauenquote!“ Keine „geschenkten Ladinersitze“ forderten unter anderem die Grünen, so Niederkofler: „Am 16. Februar wurden bei der Sitzung des Ersten Gesetzgebungsausschusses einige strittige Punkte entschärft, so etwa der Ladinerpassus, die Voraussetzungen für die Listenhinterlegung und die Frauenquote – hier waren im ursprünglichen Entwurf deutliche Verschlechterungen vorgesehen. Es sind aber nach wie vor keine tatsächlich wirksame Begrenzung der Wahlkampfspesen und keine Sanktionen für Wahlwerbung durch Vereine, Verbände und Gewerkschaften vorgesehen.“ Eine Reduzierung der Wahlwerbespesen pro Kandidat sei auch im Sinne der STF, unterstreicht Zimmerhofer, ebenso sollten “Verbände und Organisationen mit einem klarerem Verbot für Wahlwerbung für Parteien und Kandidaten belegt werden. Zudem fordern wir, entsprechende Sanktionen bei Verstößen.“
SCHLUSSABSTIMMUNG
Am 24. Februar 2017 erfolgte die Endabstimmung der Ersten Gesetzgebungskommission mit der Billigung aller Artikel. Die am meisten debattierten Punkten waren die Bestimmungen zu den Ladinern, zur Frauenquote und zur Mindestanzahl der Kandidaten. „Vor jeder Wahl müsste eigentlich jede Liste davon ausgehen können, dass der Wähler sie mit einer Sitzanzahl ausstattet, die zur Teilnahme an der Regierungsmehrheit berechtigt. Was tun, wenn ich beispielsweise nur drei Kandidaten auf der Liste habe, die Wählerstimmen mich aber mit fünf, zehn oder fünfzehn Sitzen ausstatten. Wer soll dann die zustehenden Sitze übernehmen? Es ist also so, dass 24 Kandidaten nicht zu viel, sondern drei pro Liste zu wenig sind. Am Ende hat man sich im Gesetzgebungsausschuss auf zwölf Kandidaten pro Liste geeinigt, ein meiner Meinung nach guter Kompromiss“, führt Durnwalder an und erklärt im Bezug auf die Frauenquote: „Es gilt für die Kandidatenlisten, dass für jeweils zwei Männer immer auch mindestens eine Frau auf der Liste stehen muss. Ansonsten werden die Männer im Verhältnis von der Liste gestrichen. Für die Zusammensetzung der Landesregierung gilt, dass diese das Geschlechterverhältnis im Landtag widerspiegeln muss. Sind die Hälfte der Abgeordneten Frauen, muss auch die Hälfte der Landesregierung weiblich sein. Zu sagen ist, dass die Quote in beiden Fällen im Gesetzestext geschlechtsneutral definiert ist.“ Bei der Frauenquote hat sich der Ausschuss also für die Rückkehr zur alten Regelung entschieden. „Kein Geschlecht darf wie bisher mehr als zwei Drittel der Liste ausmachen. Quoten sind dann notwendig, wenn man nicht davon ausgehen kann, dass sich ein Missverhältnis in absehbarer Zeit von selber behebt, und das ist offensichtlich der Fall, wenn auch nach Jahrzehnten Frauen immer noch deutlich unterrepräsentiert sind. Im Übrigen bezieht sich die Quote nur auf die Listen, die Gewählten ergeben sich aufgrund der Vorzugsstimmen, die, im Unterschied zu einigen anderen Regionen, auch alle Personen desselben Geschlechts gegeben werden können“, gibt Niederkofler zu bedenken.
GUT DING WILL WEILE
2017 soll das Mammutprojekt „Landeswahlgesetz“ zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Nach der Ersten Gesetzgebungskommission steht nun die Behandlung des Wahlgesetzes im Landtagsplenum an, womit man im April beginnen möchte. Das Landeswahlgesetz soll auch im Plenum mehrheitlich gutgeheißen werden. Wohl weniger auf der Grundlage der demokratischen Akzeptanz, wie Taibon vermutet, sondern, weil „beim Wahlgesetz noch die alte Gesetzgebung in Kraft ist. Diese besagt, dass bereits sieben Abgeordnete, die ihr Einverständnis verweigern, ausreichen, um ein Referendum über das neue Wahlgesetz abzuhalten. Hier hat die Opposition schon ein gewisses Druckmittel in der Hand. Die SVP will bestimmt keine Volksbefragung riskieren.“ (SP)
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