Teil I – „Ein Stern erster Ordnung“.
Die im Titel dieser Arbeit enthaltene Klassifizierung Norbert Conrad Kasers stammt aus dem inzwischen berühmten „Zeit“-Artikel vom 4.1.1980, in dem der Literaturkritiker und Journalist Rolf Schneider das erste Buch Kasers rezensierte, das 1979 in der Galerie Bloch in Innsbruck unter dem Titel „Eingeklemmt“ erschienen war. Die Rezension wurde zu einem Hymnus auf Kaser, der nach Rolf Schneider „noch postum die poetische Kraft hat, zu einem Stern erster Ordnung zu werden“. Und dann verglich er ihn mit Georg Trakl: „… es gibt kaum einen österreichischen Dichter, dem er insgeheim so ähnelt wie Trakl. Beide haben die gleiche bittere und desperate Sicht auf die Dinge, die gleiche Verletzlichkeit, den gleichen Hang … zur Selbstzerstörung.“ Und dieser Vergleich mit Trakl war gewissermaßen die höhere Weihe zum Dichter, denn ab diesem Artikel war das eben noch in seinem Lande geschmähte „Kasermandl“ wer im Bereich der deutschen Literatur und ist es geblieben.
Inzwischen hat auch die Stadt Bruneck ihren Dichter N. C. Kaser anerkannt und ist stolz auf ihn. Kaser war Brunecker mit Leib und Seele, obwohl er gar nicht hier geboren wurde, sondern in Brixen. Das Geburtshaus teilt er mit einem anderen für das offizielle Südtirol lange ebenfalls unbequemen Mann, mit Reinhold Messner. Beide kamen in Brixen im Haus der Grauen Schwestern von der Heiligen Elisabeth an der alten Straße nach Lüsen zur Welt. Kaser verfasste im Sommer 1975 zum Thema Geburtsort zwei Manuskriptseiten, die er mit den Vermerken „streng privat“ und „muß noch umgearbeitet werden“ versah. Außerdem strich er die zwei Seiten durch. Kaser schreibt:
„warum gerade brixen?
es ist bei haut & haar noch nicht an der zeit meinen lebenslauf
niederzuschreiben doch fuer dieses kapitel bin ich mir alt genug auch
werden sich fehler einschleichen, die meine verwandten beleidigen kraen-
ken oder gar meiner mutter selig weh tun. ich kanns nicht anders berichten
ich bin kein verschlafener mensch & erst recht kein brixner: ich
schaeme mich dort geboren zu sein & schuld daran hat meine großmut-
ter selig. der krieg war eben fertig & inflation & spekulation hatte in
viele bauernhoefe loecher gerissen: besitzer wechselten entschaedigungen
wurden verweigert unterschlagen & auf diese weise verlor maria meine
großmutter den kroellhof sonnig zwischen dietenheim & luns gelegen.
ein sohn des neuen kroell alois mit namen stieg meiner mutter nach &
sie wurde mit mir schwanger. es war ein sehr kalter winter als sie mich
austrug – an eine heirat war nicht zu denken großmutter stemmte sich
mit religioesem haß dagegen. paula meine mutter kannte keine großen
irdischen freuden & trotzdem war sie lebenslustig keck kein kind der
traurigkeit & sie gebar mich. doch niemals in meiner heimatstadt: der
balg mußte heimlich auf großmutters befehl in brixen zur welt kommen
& wurde bei den grauen schwestern belassen.
APRIL 1947 5 uhr frueh.
inzwischen stellte ihr franz nach. der hatte einen zerschoßnen arm aus
rußland mitgebracht & 6 monate spaeter heirateten sie & er gab mir
seinen schreibnamen ihr als morgengabe. ich war sein sohn vor gesetz &
staat & recht.“
28/290775
Ich habe eigentlich nicht vor, Kasers Leben hier im Überblick darzustellen. Die wesentlichen Dinge über sein Leben werden im Laufe dieser Arbeit sowieso gesagt werden. Denn wenn ich Kaser durch seine Texte zu Wort kommen lasse, scheint sein Leben durch. Unerhört vieles in seinem Schaffen ist autobiographisch, hat mit seiner Brunecker Wirklichkeit zu tun. Kaser tat etwas, was Dichter normalerweise nicht tun, er legte seinen Eintritt in die Literatur mit einem Gedicht fest, und zwar mit dem Gedicht „Laas für Marijke“, das er im Oktober 1967 schrieb, als er eben an der Mittelschule in Laas im Vinschgau zu unterrichten begonnen hatte.
Laas für Marijke
Kuhdorf 1861 abgebrannt
die staatsstraße mittendurch
kuhherden und laster
romanische kirchen
ist das alles,
frage ich
Marmorbruch und falscher onyx
die magere etsch mittendurch
misthäufen und traktoren
historischer boden
ist das alles,
frage ich
Nein!
die äpfel sind herber
vorsätze gelten nichts
wie anderswo
um die großschreibung steht es schlimm
das ist alles,
sage ich.
Das Gedicht ist so wie viele andere auch, der Satzbau ist einfach, sprachliche Bilder, Metaphern, kommen nicht vor, dafür sparsam eingesetzt umgangssprachliche Elemente, und nichts geht ohne den autobiographischen Bezug, beginnend mit der Widmung, die Teil des Titels ist. Die dort genannte Marijke stammt aus Meran und unterrichtete im Schuljahr 1967 an der Mittelschule in Laas. Ihre Mutter war Holländerin. Kaser schrieb das Gedicht praktisch aus dem Stegreif innerhalb weniger Minuten, als er mit Marjike gemeinsam Schulhefte korrigierte.
Wenn Kaser seinen Eintritt in die Literatur mit dem Gedicht „Laas für Marijke“ festlegt, bedeutet das nicht, dass er vorher nichts geschrieben hätte. In dem Interview, das Kaser im Mai 1975 mit Ivo Micheli geführt hat und das in der Zeitschrift „Sturzflüge“, 8/1984, S. 39-54, veröffentlicht ist, sagt Kaser auf die Frage, wann er Gedichte zu schreiben angefangen habe, ein faschistischer Lehrer habe ihm den Floh ins Ohr gesetzt, dass er schreiben könne, und so habe er dann geschrieben. Die erste Gedichtsammlung stellt Kaser im August 1968 zusammen, er nennt sie „probegaenge“. Die dort enthaltenen (ca. 50) Gedichte trug er zunächst in den Jahreskalender ein, und zwar an den Tagen, an denen sie entstanden waren. Dann schrieb er sie mit der Maschine ab und band die Blätter per Hand mit Karton und Kuvertklammern zu einem kleinen Heft. Bereits Ende August folgte die zweite Sammlung unter dem Titel „20 collagen & 20 fuerze“. Die Hefte wurden in wenigen Exemplaren an Freunde verschenkt. Aber keine dieser Sammlungen wurde zu Kasers Lebzeiten je gedruckt. Zu seinen Lebzeiten erschien kein Buch von ihm, er bekam lediglich die Gelegenheit, in Zeitungen und Zeitschriften einzelne Texte zu veröffentlichen.
Die ersten 7 Gedichte Kasers brachte im Jahre 1968 die Zeitschrift „die brücke“ heraus. Diese erschien ab November 1967 bis 1969 in Bozen, herausgegeben von den Studenten Alexander Langer, Siegfried Stuffer und Josef Schmied. Sie verstand sich als Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur und nahm sich u. a. vor, der neuen Südtiroler Literatur Raum zu geben. In der sogenannten „Neuen Werkstatt“ der Zeitschrift veröffentlichte nicht nur Kaser seine ersten Gedichte, sondern auch Anita Pichler, Markus Valazza, Josef Zoderer und Roland Kristanell, um nur die neben Kaser bekanntesten zu nennen.
Leseprobe aus „die brücke“:
Kakteen
kugeln, zylinder
gruene geometrie
stacheln dornen
wasserscheu
und im exil
wie die leute sind sie
fleischig innen
außen eine armee
wie angefault sie sind
merkt man vielen
nicht an
sie wachsen in betrunkenen formen
doch berechenbar
bluehen ist ihre staerke nicht
werft sie vom fenster
und mich dazu
mein fallen mit toenernen toepfen
ist mir musik.
Als Kaser am 23. September 1968 ins Brunecker Kapuzinerkloster eintrat, waren viele, die ihn kannten, der Meinung, er wolle in der Kutte leichter durch die Matura kommen. Zweimal, in den Jahren 1966 und 1967, war er bei dieser Prüfung für nicht reif erklärt worden. Aber vielleicht war Kaser mit dem Klostereintritt ernst. Zu P. Adalbert Stampfl sagte er, er wolle ins Kloster gehen, weil er von der Welt genug habe. Genug hatte Kaser dann allerdings bald auch vom Kloster oder besser, das Kloster von ihm. Am Karsamstag 1969 musste er das Kloster verlassen. Nach P. Adalbert war der Novize für das Kloster eine sehr schwere Belastung, weil er sich in die Tages- und Klosterordnung nicht einzufügen vermochte. Dazu kamen damals schon Probleme mit dem Alkohol. Literarisch brachte die Zeit im Koster einiges. Vor allem las Kaser viel, die Autorenschar war ziemlich international, die er damals kennen lernte. Wir wissen das, weil ein Mitbruder Kasers, Karl (Richard) Erlacher, der auch literarisch interessiert war, eine Liste der gelesenen Werke zusammengestellt hat. (RT)
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