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Miteinander leben lernen

Bruneck/Pustertal – In Südtirol leben über 50.000 ausländische Staatsbürger. Das sind 9,5 Prozent der Bevölkerung. Dies geht aus dem Jahrbuch zur Einwanderung hervor, das vor kurzem vorgestellt wurde. Der Puschtra hat sich zum Thema Integration beim Vorsitzenden des Brunecker Beirates für Integration und Migration (BIM) umgehört.

Die Kultur(en)wochen waren ein großer Erfolg. An die 30 verschiedene Vereine, Institutionen und Privatpersonen haben sich an dem vom Beirat für Integration und Migration organisiertem Projekt beteiligt.

In Bruneck leben über 1.600 Menschen aus ca. 50 verschiedenen Nationen. Integration ist damit ein Thema, das alle Bevölkerungsschichten durchwandert. Der Integrationsbeirat setzt sich für die Belange dieser Menschen ein, ist Ohr und Mund zugleich und damit ein wichtiges beratendes Gremium der Stadtgemeinde Bruneck.

Einen schwierigen Integrationsprozess durchleben meistens Frauen und Müttern, betonte die Stadträtin Ursula Steinkasserer Goldwurm anlässlich eines Gesprächs über die zukünftigen Herausforderungen im Brunecker Rathaus. Auch der Integrationsbeirat selbst hat einige Zeit gebraucht, um in der Bevölkerung Fuß zu fassen. „Mittlerweile ist er aber sehr gut angekommen im Stadtleben von Bruneck“, bestätigte die Stadträtin. „Als ehrenamtliches Gremium können wir uns natürlich nicht um alle Anliegen der Migranten kümmern, haben aber stets ein offenes Ohr, vermitteln Anlaufstellen, bieten Gespräche und Hilfe an und nicht zuletzt Veranstaltungen, wie zum Beispiel die Interkulturellen Wochen oder die Initiativen bei den vergangenen zwei Stadtfesten, in denen wir die Vielfalt der Kulturen als Reichtum vermitteln, neugierig machen und so die Gesellschaft zusammenbringen.“ Mittlerweile sei der Beirat auch über Bruneck hinaus bekannt und werde häufig als Ansprechpartner in Integrationsfragen kontaktiert. „Langfristiges Ziel ist es natürlich, dass Integration irgendwann so selbstverständlich gelebt wird, dass der Beirat schlichtweg überflüssig wird. Bis dahin jedoch arbeiten die Mitglieder weiter daran, dass wir das Schöne, das uns geboten wird, gemeinsam erleben und teilen können, unabhängig von unserer Herkunft.“

Leon Pergjoka stammt aus dem Kosovo und ist vor 21 Jahren als Kind nach Südtirol gekommen. Der jetzt 31-Jährige studierte Soziologie und derzeit auch Philosophie und ist derzeit Lehrer im BBZ-Bruneck. Darüber hinaus ist er Vorsitzender des Beirats für Integration und Migration (BIM) der Stadtgemeinde Bruneck und seit dem Sommer 2019 auch im Landesbeirat für Integration tätig.

Der Vorsitzende des Beirats für Integration und Migration Leon Pergjoka mit Gründerin und Stadträtin Ursula Steinkasserer Goldwurm.

Puschtra: Herr Pergjoka, welche Aufgaben sind mit dem Amt als Vorsitzender des Beirats für Integration und Migration (BIM) der Stadtgemeinde Bruneck verbunden?
Leon Pergjoka: Der Beirat für Integration und Migration (BIM) besteht seit fast vier Jahren. Er wurde von Stadträtin Ursula Steinkasserer Goldwurm gegründet. Ihr gebührt großer Dank dafür. Wir sind ein beratendes Gremium für die Gemeinde und die Politik. Unser Hauptanliegen liegt also einmal darin Anliegen in Sachen Integration aufzuzeigen und andererseits Hilfe anzubieten, wo sie gebraucht wird. Es ist unsere Aufgabe das Thema der Integration in die Mitte der Gesellschaft zu bringen. Dies tun wir zum Beispiel mit Veranstaltungen wie etwa den Kultur(en)wochen, die wir vor einem Jahr veranstaltet haben und wo über 30 verschiedene Vereine, Institutionen und Privatpersonen mitgemacht haben.

Was konnten Sie gemeinsam mit dem Beirat in den letzten Jahren alles bewegen?
Was wir bisher geschafft haben ist, uns zu etablieren, uns zu zeigen, sowie den Austausch und die öffentliche Diskussion zu fördern. Was mir in den letzten Jahren vor allem auch aufgefallen ist, ist, dass sich die Sprache in der Politik in Bruneck verändert hat. Sie hat sich sozusagen ‘normalisiert‘. Es wird viel offener über das Thema Migration gesprochen und auf Mitbürger zugegangen, als vielleicht noch vor Jahren. Ich denke, dass der Beirat auch dafür eine Unterstützung war und ist.

Beruflich sind Sie Lehrer und tagtäglich mit Kindern aus unterschiedlichen Kulturen konfrontiert. Welche Herausforderungen diese Kinder heute im Südtiroler
Schulalltag zu bewältigen?
Als Lehrer habe ich immer wieder mit Kindern mit Migrationshintergrund zu tun und mir fällt auf, dass auf beiden Seiten, also bei ‚einheimischen‘ Kindern und bei Kindern mit Migrationshintergrund Ängste vorhanden sind. Wenn Menschen ihre Heimat verlassen und nach Südtirol kommen, erwarten sie sich meist eine ‘bessere Welt‘. Eine Welt die funktioniert, wo alles geregelt ist. Meist ist die Realität dann ein Schock, weil diese Erwartungen meist einfach zu hoch sind oder man zu emotional oder sensibel auf negative Erfahrungen reagiert. Auf der einen Seite haben einheimische Kinder, weil wir ja Teil einer Leistungsgesellschaft sind, Angst, dass ihnen etwas weggenommen wird, dass sie nicht mithalten können. Bei diesen Ängsten ist der Konkurrenzgedanke sehr stark vorhanden, vielmehr emotional als rational und meistens begleitet mit falschen Vorstellungen der Realität, die diese Ängste prägen.

In Südtirol spricht man von “Integration durch Leistung“: Ausländische Staatsbürger müssen mindestens eine der Landessprachen kennen und einen Integrationskurs besuchen. Dazu kommt die Schulpflicht der Kinder. Ist es damit schon getan?
Das sind auf alle Fälle sehr gute Grundgedanken. Der Gesetzgeber sucht hier den Kontakt, um Dinge gemeinsam zu gestalten und Grundvoraussetzungen werden geschaffen. Ein großes Lob gilt auch dem Versuch Bildung und berufliche Qualifizierung zu fördern. Ich stehe solchen Ideen sehr offen gegenüber. In der Folge soll es aber auch darum gehen, etwas über den Tellerrand hinauszublicken, denn es gibt so viele verschiedene Schicksale, die durch ihre individuelle Situation durch das Raster fallen. Etwa, wenn solche Forderungen an Sozialleistungen geknüpft werden. Jene, die draufzahlen sind die Schwächsten in unserer Gesellschaft, allen voran die Kinder und die Alleinerziehenden, gerade, wenn man Bedenkt, dass Familiengelder o.ä. gestrichen werden könnten, weil die Eltern nicht in der Lage sind einen Kurs zu besuchen oder zu bestehen. Was kann hier das Kind dafür? Solche Situationen führen genau in die Gegenrichtung. ‘Fordern‘ und ‘fördern‘ kann man, aber zunächst muss man Grundvoraussetzungen bieten und alle Bürger gleichgerecht behandeln, es darf keine strukturelle Diskriminierung geben, wenn man ‘fordern‘ will, wie dies momentan leider in gewissen Sachen der Fall ist. Ein Beispiel hierfür ist, dass nur Nicht-EU-Bürger fünf Jahre lang ansässig sein müssen, um für Mietbeiträge ansuchen zu dürfen. Ich finde auf menschlicher Ebene ist das nicht vertretbar, dass ich nur, weil ich ein anderes Papier in der Hand halte nicht die gleichen Rechte habe, ich, aber sehr wohl, gleich wie jeder andere EU-Bürger oder italienische Staatsbürger Steuern zahle, arbeite usw. Andererseits auch auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene bringt das keine Vorteile. Armut, schlechte Mietwohnungen, schlechte Lebensbedienungen für die Familienmitglieder, Ballungszentren entstehen was dann auch dazu führt, dass man sich auch gesellschaftlich mehr schließt und isoliert. Man sollte hingegen den Menschen gerade am Anfang mehr helfen, da sie so, viel schneller Autonom werden, viel früher weniger oder keine Sozialleistungen brauchen, eine sehr positive Erfahrung mit öffentlichen Institutionen erleben, sich Beispielsweise ein Eigenheim leisten können, denn so etwas führt die Menschen dazu viel mehr und bewusster Verantwortung zu übernehmen, man interessiert sich dann viel mehr was hier passiert, man sieht den Wert der Integration besser und ist schlicht und einfach positiver eingestellt auf die Gesellschaft und Politik und unterstützt nebenbei auch die Wirtschaft. Das kann ich auch aus eigener Erfahrung zu 100 Prozent vertreten. Ich sage noch einmal, fordern und fördern ist in Ordnung, aber wenn Forderungen nicht an Sozialleistungen gebunden sind, sondern z.B. an Studientiteln, berufliche Qualifikationen, Staatsbürgerschaft u.ä. Wenn man Integration ‚fordert‘, darf man keine Diskriminierung in irgend einer Form produzieren, die die Lebensbedienungen der Menschen verschlechtert. Was die Schulpflicht anbelangt, bin ich selbstverständlich der Meinung, die sollte ohne Ausnahme gefordert werden und hier braucht es vielleicht mehr Strategien und Unterstützung für die Schüler, Schulen oder Eltern in schwierigen Situationen.

Was gehört für Sie zu einer gelungenen Integration alles dazu?
Integration ist ein Lebensprozess und betrifft alle und hat mit Erneuerung zu tun. Also ein Lebensprozess innerhalb und mit der Gesellschaft, der ständig erneuert wird. Im Mittelpunkt stehen natürlich die zwischenmenschlichen Beziehungen. Diesen Prozess gehen gerade moderne Gesellschaften in einem sehr rasanten Tempo. Wir alle müssen uns ständig in einer neuen (Um-)Welt zurechtfinden. Man bedenke hier auch die technologische Entwicklung, die ja auch neue Gesellschaftsformen, Möglichkeiten schafft und unser Zusammenleben tiefgehend verändert. Das Migrationsphänomen ist eben genauso ein Prozess in dem die Gesellschaft(en) gefordert ist sich damit auseinanderzusetzen und friedliche Lösungen zu finden. Migration gab es immer in der Menschheitsgeschichte und wird es auch immer geben. Eine gelungene Integration für den einzelnen ist vielmehr ein Gefühl, hat viel mit dem Wohlbefinden in einer Gemeinschaft zu tun. Fühle ich mich Zuhause? Habe ich Menschen auf die ich mich verlassen kann? Fühle ich mich von denen eher aufgehoben und verstanden oder ausgeschlossen? Vereinfacht, ich fühle mich in einer Gemeinschaft wohl und möchte mit anderen Mitmenschen leben und gestalten. Deswegen betrifft es am Ende, wie man sieht, Alle! Es ist einfach gesagt ein ‚Heimatgefühl‘.

Was wird das nächste Ziel in Integrationsdingen für Sie sein?
Was mich vor allem als Lehrer interessiert, ist es die Kinder/Jugendlichen zu unterstützen. Ich würde gerne etwas in der Schule diesbezüglich verändern. In meiner Ausbildung und Erfahrungen auch außerhalb meines Hauptberufs, habe ich viel lernen können was Jugendliche diesbezüglich brauchen. Seit Jahren arbeite ich als interkultureller Mediator, veranstalte Seminare und Fortbildungen für Erwachsene usw. Ich würde hier gerne Weichen stellen und konkrete Schritte auf Landesebene unternehmen, um die Schüler mit- und ohne Migrationshintergrund in diesem Lebensbereich zu unterstützen und zu stärken.

In den jüngsten Gewaltakten in Südtirol sehen die Freiheitlichen Indizien für eine „gescheiterte Integrationspolitik“. Wie beurteilen Sie diese Entwicklungen?
Ich sehe keine ‘gescheiterte Integrationspolitik‘ in diesem Sinne, vor allem nicht wenn eine ‘gelungene Integrationspolitik‘ darauf aufbaut gesamte Volksgruppen zu bestrafen oder zu diskriminieren, weil einzelne Personen sich falsch verhalten. Natürlich verurteile ich Kriminalität und Gewalt und würde nie versuchen so etwas auch nur im Geringsten zu rechtfertigen. Ich verurteile auch diese Sprache, die verletzend ist gegenüber allen anderen Mitbürger, die nichts mit diesen Gewaltszenen zu tun haben. Es ist traurig für mich, wie für viele, wenn man sieht, dass Politiker selbst aus einer Gewalttat, politisches Kapital schlagen wollen. Gescheitert ist die Politik nicht, es ist nur an der Zeit mehr in dieser Richtung zu tun, schließlich handelt es sich hier nicht um Phänomene, die man einfach mal so berechnen oder vorhersagen kann. In dieser Richtung wird auch etwas gemacht, dass kann ich aus eigener Erfahrung hier in Bruneck, wie auch auf Landesebene sagen, wo ich im Landesintegrationsbeirat sitze. Ich bin der Meinung man sollte jetzt nochmal genauer aufeinander Hinhören, die Sachen mehr mit Vernunft und weniger mit Emotionen betrachten. Aber Anreiz, um etwas zu tun, sollten nicht nur eine Schlägerei angetrunkener junger Männer in einer Diskotheke sein, sondern vor allem die anderen 99 Prozent, die hier friedlich Leben und arbeiten wollen. Diese Menschen sind total machtlos in diesen Situationen. Also, etwas mehr Respekt und gewaltfreie Kommunikationsformen wären hier gefragt. Denn Gewalt beginnt nicht bei den Fäusten!
(TL)