Na, heute schon gelebt? Vielleicht sogar einen lang gehegten Traum erfüllt? Falls nicht, dann wird’s Zeit. Denn man lebt nur einmal. Diese Chance sollte man nutzen, um sich seine Träume zu erfüllen, um glücklich zu sein.
Ein Buch kann dein Leben verändern. Es war Heiligabend 1987, ich war ein kleiner Bub, und unterm Christbaum lag ein großes, unheimlich schweres Geschenk. Das Christkind (alias mein Vater) hatte uns Kindern ein Buch gebracht. „Monumente der Welt“, so der vielsagende Titel des riesigen Buches, war ein Werk, das den Leser mit beeindruckenden Bildern und sprachlich anregenden Texten dazu einlud, sich auf eine Reise zu begeben, zu den Naturwundern und architektonischen und kulturellen Attraktionen unserer Welt. Ein fantastisches Buch, das auch 30 Jahre später noch eine ungebrochene Faszination auf mich ausübt. Wegen “Monumente der Welt“ habe ich angefangen zu reisen. Das Buch hat mich dazu bewogen, die darin vorgestellten Sehenswürdigkeiten zu besuchen und sie hautnah zu erleben. Jedes mal wenn ich also leibhaftig vor einem dieser Monumente stehe, denke ich ans Christkind und freue mich darüber, dass es mir damals eine Sammlung von Träumen geschenkt hat, Träume, die ich verwirkliche, jedesmal wenn ich auf Reisen bin.
Ich habe einen Bekannten, der heißt Tom, und auch ihn hat ein einziges Buch maßgeblich geprägt. Er war ebenfalls noch ein Kind als er ’sein‘ Buch entdeckte. Es trägt den Titel ‚Klassische Alpengipfel‘ und wurde 1986 von Walter Pause veröffentlicht. Das Buch listet – wie der Titel schon verrät – eine Reihe von markanten Bergen im Alpenbogen auf, die aufgrund ihrer Höhe, ihrer alpinhistorischen Bedeutung oder einfach wegen ihrer fantastischen Lage vom Autor als Klassiker eingestuft wurden. Ein eben solcher Klassiker ist das Buch mittlerweile selbst geworden, es ist ein Standardwerk des Alpinismus und hat Toms Leben einschneidend verändert. Wie oft er es gelesen hat, kann er nicht mehr genau sagen. Bis heute stöbert er immer wieder darin und sucht sich dabei Inspirationen für seine nächste Bergtour. Das Buch hat in ihm eine Idee keimen lassen, ein Traum ist entstanden, die Sehnsucht, die Berge die dort beschrieben werden, einmal selbst zu sehen, zu besteigen, und die Fantasie Wirklichkeit werden zu lassen.
Dass die Umsetzung einer solchen Idee oft ziemlich aufwändig ist, versteht sich wohl von selbst. Nicht selten muss man sich alleine auf die Socken machen, Entbehrungen und Schwierigkeiten auf sich nehmen. Aber wer Träume erfüllen will, der muss mutig und vor allem munter sein. Und deshalb beginnt diese Geschichte hier auch mit dem Klingeln eines Weckers.
Tom wird aus tiefem Schlaf gerissen. Es ist zwei Uhr morgens, der Lärm des Weckers sticht in seine Ohren. Zeit aufzustehen. Aber er will noch nicht, nicht jetzt. Verdammt, dabei hatte er sich doch vorgenommen früh aufzubrechen. Durch seinen dämmernden Kopf streichen Gedanken an den Monte Argentera, den 3.297 Meter hohen Berg in den piemontesischen Seealpen, den Walter Pause in seinem Buch als letzte herausragende Erhebung im Alpenhauptkamm bezeichnet, als einen mächtigen, von stillen Wandfluchten getragenen Zackengrat in nächster Nähe zum Mittelmeer. Wenn er dorthin will, seinen Plan von der Überschreitung des Doppelgipfels umsetzen will, muss er jetzt raus aus den Federn. Doch sein Körper ist wie Blei. Durch die Ritzen der Fenster-Rolläden schimmert das Licht der Straßenlaterne und Tom denkt an die Sonne des Mittelmeeres. Unten in den Seealpen steht man in den Bergen und kann gleichzeitig das Meer riechen, erzählt Michael Pause. Die Argentera wäre ein besonderes, ein einzigartiges Stück des Traumes, den Tom sich erfüllen möchte. Er träumt vom blauen Meer, von hohen Bergen und dann schließt er wieder die Augen und schlummert weg. Der Schlaf ist stärker, sein Traum von den Seealpen versinkt in den Federn des Bettes.
Stunden später wacht Tom auf. Er ist ausgeschlafen, aber unzufrieden. Unter dem Vorwand der Müdigkeit hat er sein Vorhaben einfach über den Haufen geworfen, eine Chance verstreichen lassen. Doch die Idee von der Argentera, sie hämmert weiterhin leise und unerbittlich in seinem Kopf. Die verpasste Gelegenheit lässt ihm keine Ruhe.
Oh ja, diese „hätte-ich-dann-wäre-ich“- Gedanken können dich fertig machen, dir Tage, ja sogar ganze Wochen versauen. Wie oft schon habe ich Ausreden gesucht – und im Handumdrehen gefunden – um mich vor einer Herausforderung zu drücken? Es gibt immer tausend Gründe etwas nicht zu tun (zu mühsam, zu weit weg, zu blablabla…). Aber den einen Grund, es doch zu tun, stellt man gerne hinten an. Mir passiert das dauernd, kurz vorm Verreisen. Ich muss wohl dazu sagen, dass ich fast immer alleine verreise. Und das trägt sicher dazu bei, dass mein Körper jedesmal rebelliert, kurz bevor ich aufbreche. Da regt sich dann eine Art innerer Widerstand gegen meine Unternehmung. Manchmal ist es Fieber, meistens sind es Bauchschmerzen und immer bin ich versucht, diese Leiden mit ein paar ‚wichtigen‘ Terminen zu kombinieren und voilà: Schon gibt’s genügend Gründe doch nicht aufzubrechen.
Das ist Blödsinn. Und weil ich mich mittlerweile kenne, höre ich nicht mehr auf diese Brems-Geister. Ich rufe mir dann immer eine schöne Weisheit von Mark Twain in Erinnerung. ‚Am Ende deines Lebens bereust du nicht die Dinge, die du getan hast, sondern nur jene, die du eben nicht getan hast“, hat der smarte Amerikaner irgendwann mal sinngemäß gesagt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.
Tom hadert mit sich selbst. Er schaut auf die Uhr. 09.00 Uhr. Es ist zu spät. Zu spät, sein Vorhaben im ursprünglich gedachten Rahmen durchzuziehen.
Aber wenn er….aber wenn er das ganze einfach zeitlich stauchen würde und in einem Zug, also vom Tal aus startend machen würde, dann wäre der Traum von der Argentera eigentlich noch am Leben.
Tom träumt, überlegt, hadert und dann reißt er sich am Riemen. Los geht’s. Es ist Mittag, als er im Auto sitzt, den Schlüssel umdreht und sich auf den Weg macht. Auf den Weg Richtung Süden.
Über die Autobahn geht’s von Brixen nach Verona, dort biegt er rechts ab und braust über die Poebene gen Westen. Es ist eine lange Fahrt. Gut 600 Kilometer liegen zwischen seinem Wohnort und dem Parkplatz am Fuße der Argentera, bei Therme Valdieri. Eine Strecke, die Tom ganz allein in seinem Auto verbringt. Einsam ist er dennoch nicht. Das sei der beste Ort, um sich ausführlich Gedanken zu machen, sagt er, bei solchen Fahrten habe er die Zeit, endlich mal Sachen durch zu denken, Angelegenheiten, die sonst, in der Hektik des Alltags, immer zu kurz kommen. Während der Fahrt findet er also die Zeit, in sich zu gehen, die Auseinandersetzung mit sich selbst zu suchen – eine Konfrontation, der die meisten von uns ständig ausweichen, entweder beim Starren aufs Smartphone oder beim ewig gleichen Abspulen von Trainingseinheiten einer beliebigen Sportart. Tom fährt mit seinem Wagen durch die große Ebene, vorbei an Piacenza, Turin und Cuneo. Zu seiner Rechten sieht er hie und da die Bergspitzen der Westalpen am Horizont schimmern. Es hat sich gelohnt, aufzubrechen, die Reise anzutreten. Als er gegen 18.30 den Parkplatz erreicht, hat sich die Nacht schon über die Berge gelegt. Noch ein paar Nudeln am Gaskocher sieden, dann legt er sich hin, im Rückraum seines Wagens, in Vorfreude auf die Bergtour, die in ein paar Stunden beginnen kann.
Der Wecker klingelt, Tom erwacht aus dem Halbschlaf. Es ist 06.30 Uhr. Die Scheiben im Inneren seines Wagens sind beschlagen. Draußen drängt der anbrechende Tag die Nacht Schritt für Schritt zurück. Tom öffnet die Tür, knackig-frische Luft dringt in seine Lungen. Es ist Oktober und der Himmel ist wolkenlos. Um 07.30 Uhr macht er sich auf den Weg.
Der Aufstieg ist ein Genuss. Er kommt zügig voran, nur hin und wieder bleibt er stehen und blickt auf die raue Landschaft, durch die er aufsteigt. Die stetig stärker werdende Sonne entlockt den Pflanzen angenehme Düfte. Er überschreitet die Baumgrenze, hat plötzlich die gewaltige Steilrinne des Couloir Lourosa vor Augen und geht weiter bis zum Altiplano del Baus . Als er schließlich den Grat des Nordgipfels erreicht, hält Tom inne und ist überwältigt:
„Der nahe Monviso, der die gesamten Südalpen beherrscht wie kaum ein anderer Berg in den Alpen, zog meinen Blick auf sich. Das Panorama weitete sich schlagartig und der ungefähr 500 Meter entfernte Hauptgipfel der Argentera im Süden sah beeindruckend aus. Ich folgte dem Grat zwischen den Zwillingsgipfeln. Nach einer knappen Stunde anregender Grat-Kletterei erreichte ich die Südspitze. Der wolkenlose Herbsthimmel und die schon tief stehende Sonne tauchten die Berge in ein wunderbares Licht. Auf der einen Seite erblickte ich das Mittelmeer, auf der anderen Seite erstreckte sich die gewaltige Weite der im Dunst liegenden Poebene. Ein großer Teil des Alpenbogens lag vor meine Augen, wie ein geöffnetes Bilderbuch und ganz weit hinten, verschleiert vom Dunst, konnte man die Gipfel der Bernina-Gruppe erkennen.“
In diesen Momenten wird der Traum zur Wirklichkeit. Die Versprechungen aus Walter Pauses Buch, sie werden greifbar, Tom fühlt sich wie im Bilderbuch, nur, dass er die Mischung aus Meeres- und Bergluft nun tatsächlich riechen kann, dass die Poebene unendlich breit und tief jetzt unmittelbar vor ihm liegt, dass die Idee der Argentera nun zu einem Erlebnis und somit zu einer bleibenden Erinnerung wird.
Die Zeit, die er am Gipfel verbringt, vergeht wie im Flug. Nach einer Stunde bricht er auf, er muss noch runter ins Tal, zurück zum Auto, ehe der Herbsttag sich neigt und die kalte Nacht wieder anbricht. Um 19.30, 13 Stunden nachdem ihn der Wecker aus dem Schlaf geholt hat, steht er wieder beim Auto, erschöpft aber glücklich. Während er seinen Rucksack ausräumt und alles startklar macht, fällt ihm auf, dass er an diesem Tag in den Bergen keinem Menschen begegnet ist. Er war allein. Und es war wunderschön. Das verdammte Klingeln des Weckers, die lange Fahrt allein im Auto, das Schlafen im Rückraum seines Wagens – es hat sich gelohnt. Er hat all diese Schwierigkeiten auf sich genommen und gemeistert, weil er einen Traum hatte – seinen Traum. Es war ein wunderschönes Erlebnis. Er beschließt, diesen besonderen Tag gemächlich ausklingen zu lassen. Also bereitet er erneut sein Nomaden-Bett im Auto und dämmert langsam weg, mit der Gewissheit eines erfüllten Traumes in seinem Herzen.
Da sehen wir’s: So mühsam und so einfach zugleich läuft das mit dem Erfüllen von Träumen. Man muss sich nur auf die Socken machen. Tom hat’s vorgemacht. Und mich damit unruhig werden lassen. Ich muss aufstehen, hin zum Bücherregal. Ich schnapp‘ mir mein Buch und fange an zu stöbern, ziellos und gleichzeitig gespannt, welches Monument mich diesmal fesseln wird. Welchen Traum sollte ich endlich verwirklichen? Wohin könnte die nächste Reise gehen?
Zur großen Mauer in China?
Zum Grand Canyon?
Ins Amazonas-Becken?
Na los, tu es!
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