PFLEGE WIRD IMMER KOMPLEXER
Den Lebensabend gesund und leistungsstark zu erleben, ist ein Geschenk. Doch auch bei Krankheit oder Einschränkung der körperlichen Mobilität leben wir dank guter Pflege, die uns heute zuteilwird, immer länger. Die Kehrseite dieser positiven Entwicklung: Immer mehr Menschen benötigen Pflege und der Pflegebedarf wird aufgrund der komplexeren Krankheitsbilder immer aufwendiger, sodass er die Anforderungen einer herkömmlichen Altenpflege schon längst übersteigt. Zur Herausforderung werden aber auch die zum Teil fehlenden, geeigneten Strukturen. Wohn- und Pflegeheime sind übervoll, selbst der Hauspflegedienst und die Tagespflege führen lange Wartelisten.
„Unsere neue Herausforderung der nächsten Zukunft wird sein, den erhöhten Betreuungsbedarf zu decken, indem wir genügend Betreuungsmöglichkeiten für Menschen im Alter schaffen. Die Nachfrage an Heimplätzen steigt zunehmend und eine Aufnahme erfolgt inzwischen nur mehr über Ranglisten nach Pflegebedarf. Das Dilemma vieler älterer Menschen ist heute, dass sie wohl nicht mehr alleine leben möchten, aber körperlich in einer noch zu guten Verfassung sind, um auf die Ranglisten der Heime zu kommen. Das Modell ‚Begleitetes und betreutes Wohnen‘ würde hier Abhilfe schaffen und auch der sozialen Isolierung im Alter entgegenwirken, die stetig zunimmt. Oft fehlen Bezugspersonen und Angehörige oder die Kinder wohnen nicht vor Ort. Das ‚Begleitete und betreute Wohnen‘ würde der Vereinsamung vorbeugen. Auch wären die Wohnungen architektonisch an die Bedürfnisse des Alters angepasst, wenig Stiegen, barrierefreie Bäder und dergleichen. Hier ist die Politik gefordert. Ansätze sind gemacht und Beschlüsse sind gefasst worden, um Betreuungsformen zu definieren und zu finanzieren. Aber die Realisierung ist noch nicht reif. Es bedarf der Forcierung“, betont Albert Geiregger, Präsident des Konsortiums Wohn- und Pflegeheime Mittleres Pustertal. „In unseren Strukturen in Bruneck, Olang und in der neuen Pflegeabteilung im Krankenhaus Bruneck stehen insgesamt 210 Plätze den pflegebedürftigen Senioren zur Verfügung. Die Nachfrage wäre momentan weit höher. Im Durchschnitt sind unsere Heimbewohner heute 84 Jahre alt, und die durchschnittliche Verweildauer im Heim beläuft sich auf drei bis vier Jahre, was dem europäischen Durchschnitt entspricht. Die Verweildauer hat in den letzten Jahren abgenommen, da die Pflegebedürftigkeit der Heimbewohner stetig gestiegen ist. Schon länger werden Ranglisten mit eigenen Bewertungskriterien geführt. Das Alter oder das Antragsdatum geben schon seit Langem nicht mehr den Ausschlag, um in die Ranglisten aufgenommen zu werden. Heute ist die Pflegebedürftigkeit Voraussetzung und der Grad der Pflege entscheidet über eine Aufnahmedringlichkeit“, informiert Werner Müller, Direktor der Wohn- und Pflegeheime Mittleres Pustertal. „Die Zahl derer, die Pflege brauchen, steigt von Jahr zu Jahr. Allein in diesem Jahr haben sich bisher 1.100 Ratsuchende an mich gewandt, um sich Informationen einzuholen über die Pflege zu Hause. Die Erfolge in der Medizin waren in den letzten Jahrzehnten bahnbrechend, sodass Menschen auch mit argen Gebrechen noch am Leben erhalten werden können. Was mit sich bringt, dass wir mit einem hohen Pflegebedarf konfrontiert werden. Eine 24-Stunden-Pflege ist für eine Person alleine nicht machbar. Die Großfamilien existieren nicht mehr, viele Frauen müssen heutzutage allein für ihre soziale Absicherung lange arbeiten und sind somit für die Pflege nicht mehr verfügbar. Überall steigt der Bedarf an guten, allzeit verfügbaren Pflegekräften, und diese sind Mangelware“, konstatiert Martha Gruber, Leiterin der Anlaufstelle für Pflege und Betreuung der Sozialsprengel Bruneck Umgebung. Im Mai 2008 wurde die Anlaufstelle in Bruneck als erste südtirolweit in Betrieb genommen. „Aufgrund der Tatsache, dass es immer mehr pflegebedürftige Personen gibt, wollte man eine zentrale Stelle schaffen, in der gebündelt alle Informationen die Pflege betreffend zu bekommen sind, um Wege zu ersparen und pflegende Angehörige zu entlasten“, informiert Gruber.
PFLEGEGELD
Das Pflegegeld ist ein finanzieller Beitrag des Landes Südtirol, der es pflegebedürftigen Personen ermöglicht, so lange wie möglich zu Hause zu bleiben und dort gepflegt zu werden, was somit langfristig auch die öffentlichen Strukturen der Wohn- und Pflegeheime entlastet. „Im Pustertal beziehen 1.460 Personen daheim das Pflegegeld. Im September 2017 wurde diesen Pustertaler Pflegegeldbeziehern ein Betrag von insgesamt 1.232.843 Euro ausbezahlt, im Jahr sind das ca. 14 Millionen Euro. Südtirolweit werden monatlich ca. zehn Millionen Euro ausbezahlt an insgesamt 12.000 Pflegegeldempfänger“, weiß Gruber und auch, dass „das Pflegegeld häufig ein großer Streitfaktor in den Familien ist. Es ist wohl eine Unterstützung für die Familien, um sich professionelle Hauspflege, Hausassistenz oder private Pflegekräfte finanziell leisten zu können. Das Pflegegeld sollte aber auch wirklich zum Einkauf von Entlastungsmöglichkeiten verwendet werden. Das Geld ist sicher nicht als Aufstockung für die Rente oder für das eigene Haushaltsgeld gedacht. Seit Einführung des Pflegegeldes vor rund zehn Jahren können pflegende Angehörige sich auch für die Pflege zu Hause für zwei Jahre freistellen lassen. Voraussetzung dafür ist der gleiche Wohnsitz. Meist beginnt die Pflege mit viel Enthusiasmus, aber Pflege geht heute über viele Jahre und in der Regel lastet sie auf einer Person, und die ist in den meisten Fällen weiblich“, so Gruber.
ALTENHEIM IM WANDEL
„Das klassische Altersheim gibt es bereits seit Jahren nicht mehr. Die Heime werden immer mehr zu Pflegeheimen. Als die Struktur in Bruneck 1998 mit 100 Betten in Betrieb genommen wurde, waren davon nur 25 für eine Pflegestation geplant. Der Grund, warum man in ein Heim zog, war meist, das Fehlen eines funktionierenden sozialen Umfeldes, aber ansonsten war man noch recht rüstig. Zum Essen traf man sich im Speisesaal im Parterre, die Leute bewegten sich vorwiegend selbständig. Man kam im Grunde nur zum Essen und Schlafen ins Haus. Einzelne Bewohner haben im Garten mitgeholfen, es wurde auch angedacht, eigene Schrebergärten einzurichten, aber dazu kam es nicht mehr. Die Pflege wurde immer wichtiger und bereits 2008/09 haben wir intern umstrukturiert und die Essbereiche auf die Stockwerke verlagert. Wir haben das Haus bedürfnisgerechter gestaltet, sind aber sehr bemüht, neben den strukturellen Erfordernissen einer medizinischen ärztlichen Versorgung den Charakter eines Wohnheimes zu erhalten“, versichert Müller, auch wenn sich das Landschaftsbild der Pflegebetreuung inzwischen sehr gewandelt habe.
BESONDERE BETREUUNGSFORMEN
„Die Seniorenwohnheime sind inzwischen nicht nur zu Pflegeeinrichtungen geworden, sondern sie wurden vermehrt Auffangbecken all jener, für die geeignete Strukturen fehlen: Menschen mit psychischen Erkrankungen, Suchtkranke, multiple Sklerosepatienten, Autisten oder Menschen mit Behinderung, die heute ja auch älter werden. Die Betreuung dieser Menschen erfordert einen höheren finanziellen Aufwand. Um diesen zu bewerkstelligen sieht die Landesregierung im Beschluss Nr. 145 vom 7. Februar 2017 eigene Finanzierungsmöglichkeiten vor. Dabei unterteilt man die Möglichkeit einer Betreuung in eine intensive und extensive Betreuung sowie in jene für an Demenz Erkrankte“, hält Geiregger fest. „Für diese nun definierten Betreuungsformen ist ein erhöhter Personalschlüssel vorgesehen. Diese Betreuungsformen sind südtirolweit zugänglich. Von unseren 210 Betten in unseren Strukturen stellen wir insgesamt 61 Betten für besondere Betreuungsformen zur Verfügung: 33 Betten für den intensiven Betreuungs- und Pflegebedarf, 20 Betten für die Betreuung von Personen mit Demenz und seit Juli 2017 bieten wir auch die extensive Betreuung an, dafür stehen acht Betten bereit. Zielgruppe dieser Betreuungsform sind Pflegepersonen in psychologischer Behandlung, Menschen mit Behinderung oder Suchtproblematik. Im Pustertal sind wir derzeit die einzige Struktur, die diese Betreuungsform anbietet. In der Theorie könnten alle 61 Betten von nicht in den Mitgliedsgemeinden ansässigen Personen belegt werden. In der Praxis ist es zur Zeit so, dass nur ein einziger Platz extern belegt ist. Aber würden wir diese besonderen Betreuungsformen nicht anbieten, könnten auch unsere Leute mit besonderem Pflegebedarf nicht oder nur bedingt in unseren Strukturen unterkommen“, betont Müller.
NEUE ANFORDERUNGEN ANS PERSONAL
Die komplexeren Krankheitsbilder bei den besonderen Betreuungsformen unterscheiden sich von der herkömmlichen Altenpflege. „Besonders bei der extensiven Betreuung müssen wir individuell auf Krankheitsbilder eingehen und eigene Pflegekonzepte erstellen. Dies erfordert eine Spezialisierung der Fachkräfte. Weiterbildungen und Schulungen müssen absolviert werden“, nennt Müller eine Herausforderung, die auf die Heime zukommt, eine weitere sei, „die neuen Personalbedürfnisse. Die Einstellung zur Arbeit hat sich verändert. Ein sicherer Arbeitsplatz und ein Vollzeitjob werden hinter Freizeit, Selbstverwirklichung und Flexibilität gereiht. Die geringere Entlohnung scheint keine Rolle zu spielen. Wir werden vermehrt Teilzeitstellen anbieten und uns auf einen möglichen häufigeren Personalwechsel einstellen müssen.“ Gruber nennt eine weiter Problematik, die künftig noch zunehmen wird: „Es wird immer schwieriger, Hilfe zu bekommen. In allen Strukturen gibt es lange Wartelisten. Heute schon sind viele alleinstehend, geschieden, Kinder fühlen sich für die Pflege nicht verantwortlich. Wohin mit Pflegefällen, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen werden, weil sie austherapiert sind? Aus der Not heraus engagieren viele eine fremde, private Pflegekraft, die immer öfter aus Osteuropa kommt. Leider gibt es hier oft ein böses Erwachen auf beiden Seiten.“
PFLEGE IST NOCH IMMER WEIBLICH
„Das gesellschaftliche Dilemma ist auch, dass unserer Gesellschaft die Pflege zu Hause immer noch fast ausschließlich Frauen abverlangt. Dabei sind Frauen heute meist berufstätig, sind neben Hausfrau nicht selten auch Mutter. ‚Solange ich es schaffe, mache ich es‘, solche Aussagen sind typisch weiblich. Frauen verausgaben sich regelrecht, weil eine Frau das einfach alles können muss. Ein Mann geht sachlicher an die Pflege heran, holt sich leichter Hilfe, gibt den zu pflegenden Angehörigen auch mal in die Kurzzeitpflege und gönnt sich Urlaub. Frauen trauen sich meist gar nicht zu sagen, dass ihnen die Pflege zu viel wird, dass sie das nicht mehr schaffen“, so Gruber, dabei sei „Pflege eine knochenharte Arbeit, die viele überfordert. Hinzu kommt, dass die Pflege an den Angehörigen von der Gesellschaft wenig wertgeschätzt wird. Solange die Männer in der Pflege zu Hause fehlen, wird die Anerkennung auch ausbleiben.“
IN WÜRDE ALTERN
„Der alte Mensch, auch wenn er gebrechlich und krank ist, darf seinen Stellenwert nicht verlieren. Der respektvolle Umgang muss gewährleistet bleiben und es darf kein Abstellgleis für diese Personen geben. Auch muss die Selbständigkeit der Heimbewohner so weit als möglich erhalten bleiben. Südtirolweit arbeiten alle Heime ständig daran, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden“, versichert Müller. „Eine gute Behandlung, gutes Essen, Sauberkeit und angenehme Atmosphäre muss jenen garantiert sein, die in ein Heim aufgenommen werden müssen. Sie haben es verdient, ihren Lebensabend in einer warmen Umgebung zu erleben“, unterstreicht Geiregger. „Ist wirklich alles, was medizinisch machbar ist, auch würdevoll? Nicht selten wird heute nicht nur das Leben, sondern auch das Leiden der Patienten und deren Angehörigen künstlich verlängert“, führt Gruber an: „Der Sterbeprozess war früher kürzer, Pflegefälle waren nicht lange Jahre zu versorgen. Wir müssen wieder zurück zur Natur, loslassen lernen und einsehen, dass ein Leben eben auch einmal zu Ende ist.“ (SP)
Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.