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Pluralität der Gesellschaft

UNSERE INTERRELIGIÖSE LEBENSREALITÄT
Mit der Veränderung unserer Gesellschaft ist auch unser Glauben einem Wandel unterzogen. Wir sind wohl noch in der überwiegenden Mehrheit im Pustertal katholisch getauft, aber von einer Homogenität in unserer Religionsausübung entfernen wir uns zunehmend. Auch leben wir vermehrt mit Menschen zusammen, die einer anderen Religion angehören, wie dem Hinduismus, dem Islam, dem Buddhismus oder dem griechisch-orthodoxe Christentum. Wir gehen also einer Zukunft entgegen, in der sich unser religiöses Leben von jenem unserer Eltern und Großeltern unterscheiden wird und auf das wir uns einstellen müssen, auch um Konflikte zu vermeiden.

 

„Die moderne Gesellschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten rasanter verändert als früher in Jahrhunderten. Die Wirtschaft, die Technik, die Bewegungsmittel, die Kommunikationsmittel, haben sich auf das Verhalten des Menschen bezüglich Religionsausübung ausgewirkt. Nicht, dass sich der Glaube verändert hätte, sondern dessen Ausübung. Man spricht sogar von einer Krise, aber darin kann man auch eine Chance sehen, weil der Mensch zum Denken angeregt wird und sich entscheiden muss“, erläutert Josef Wieser, Dekan der Pfarrei Bruneck, der seit 40 Jahren im Dienst der Kirche steht. Seit seinen Anfängen habe sich vieles verändert auch zum Guten, so der Dekan: „Früher haben der Pfarrer und die Kooperatoren fast die ganze pastorale Arbeit gemacht. Die Pfarrer werden jetzt wohl weniger, aber in unserer Kirche hat es noch nie so viele freiwillige Mitarbeiter/innen gegeben wie heute. Eine Kirche ohne Pfarrgemeinderat, Pfarrverantwortliche, Religionslehrer, Pastoralassistenten, Lektoren, Kommunionhelfer, Mesner, Organisten, Chormitglieder, Ministranten und viele Helfer wäre heute nicht mehr denkbar. Zu den Gläubigen selbst kann ich feststellen, dass die Einheimischen durchaus noch praktizierende Katholiken sind, denn sie nehmen an Festtagen wie Weihnachten, Ostern, Prozessionen, Erstkommunion, Firmung und bei Begräbnisfeiern in großer Zahl teil, wenn wir auch einen Rückgang im regelmäßigen Besuch des Sonntagsgottesdienstes feststellen. Ich habe den Eindruck, dass die Gläubigen kaum Unsicherheiten in puncto Glauben zeigen, doch sie sind sehr oberflächlich und eher unwissend in Glaubensfragen geworden.“ Karl H. Brunner, Vorsitzender des KVW Bezirk Pustertals und seit elf Jahren Religionslehrer am Sozialwissenschaftlichen und Kunstgymnasium in Bruneck, bestätigt als Folge unserer veränderten Religionsausübung auch die Veränderung des Religionsunterrichts an unseren Schulen in den letzten Jahr(zehnt)en: „Die Veränderungen spürt man zum einen personell, also Lehrpersonen, die den Beruf hauptberuflich wahrnehmen ersetzen zunehmend Pfarrer, die einen mehr oder weniger großen Schwerpunkt in der Schule setzen konnten, aber auch inhaltlich: von einem ehemals gestalteten Katechismusunterricht hin zu einer Wertorientierung mit einem klaren christlichen Standpunkt, der für alle Schüler/innen unabhängig von ihrem Bekenntnis angeboten wird. Bezüglich der Schüler/innen bemerkt man, dass es heute kaum mehr ‚selbstverständliches Wissen‘ gibt, der eigene kulturell-religiöse Schatz muss erst wieder erschlossen werden. Auf den ersten Blick sind die Schüler/innen aktuell sicher weniger in einer religiösen Praxis beheimatet als noch vor zwei, drei Generationen. Das Interesse, die Auseinandersetzung und die Sensibilität für die Themen sind aber ungebrochen gegeben. Die Freiheit der heutigen Zeit bringt es mit sich, dass sie viele Realitäten kennenlernen und aus unterschiedlichen Angeboten oft Dinge für sich zusammenbasteln. Im Religionsunterricht geht es auch darum, die Schüler/innen dazu zu befähigen, einen kritischen Blick darauf zu werfen und vor allem Radikalismen zu entlarven.“ „Im Pustertal – wie auch in anderen Teilen des Landes – haben wir inzwischen wohl eine sehr große Glaubens- und Religionsfreiheit. Bedenklich ist hier eher, dass viele von uns über den eigenen Glauben immer weniger wissen. Dies wird uns von Andersgläubigen bereits ab und zu vorgehalten: Man kann mit uns nicht über Glauben und Religion reden, da wir darin nicht mehr kompetent sind“, weiß Andreas Ennemoser, Präsident des Pfarrgemeinderates Bruneck, und fügt hinzu, „neben Nationalität, Hautfarbe, kultureller Formation u.a. unterscheiden wir Menschen uns auch durch unsere Religion. Mag sein, dass wir Abendländer uns nicht mehr so sehr an eine Religion gebunden fühlen wie in vergangenen Jahrzehnten, aber die zu uns kommenden Migranten tun dies sehr oft. Und wie in allen Unterscheidungsbereichen gilt auch hier: Über das Sich-Begegnen, über das Miteinander-Reden kommt man sich näher und baut Vorurteile ab.“ In der Caritas Migrant(inn)enberatungsstelle InPut werden über 1.600 Personen im Pustertal betreut und etwa 1.000 Beratungen jährlich durchgeführt, bestätigt Leiterin Edina Pusztai Nonn: „Die Beratungsstelle InPut hat ihre Tore im Dezember 2005 geöffnet, um dazu beizutragen, die Arbeits- und Lebenssituation der Migrant/innen zu verbessern, deren Integration zu erleichtern bzw. zu fördern. Außerdem wird versucht, die eingewanderten Männer und Frauen bei der Integration in ihrem Lebensumfeld zu unterstützen. Dabei spielt die Netzwerkarbeit mit anderen Organisationen, Institutionen eine große Rolle. Weiters wird auf die Sensibilisierung und auf Aufklärung in der Gesellschaft großen Wert gelegt. Bezüglich der Religionszugehörigkeit unserer Klienten haben wir keine offizielle Erhebung, aber man kann mit Sicherheit sagen, dass alle Weltreligionen in unserem Tal zu finden sind.“

DIE SUCHE NACH HALT IM LEBEN
„Alle Menschen, ob Kinder, Jugendliche oder Erwachsene, haben ein Bedürfnis nach Halt, Geborgenheit und Sinn im Leben. In einer traditionell ländlich geprägten Gesellschaft hat die christliche Tradition sehr beigetragen, dem Jahr und dem Leben einen besonderen Rhythmus zu geben, heute ist vieles aus den Fugen geraten und es gibt eine viel größere Anzahl von Angeboten als es früher gab. Und früher hat die Kirchenleitung vieles unter Drohung von Sündenstrafen vorgeschrieben und die Gläubigen mussten es befolgen. Der moderne Stil der Kirche ist mehr einladender Art, und das hat die Gläubigen veranlasst, gleichgültiger zu werden. An Stelle von religiösen Feiern treten Events wie viele Freizeitangebote, Sportveranstaltungen, Wellnessangebote, TV Sendungen und Angebote im Computer“, nennt Wieser. Unsere moderne, westliche Gesellschaft entfernt sich immer mehr von einem eng mit dem Glauben verwobenen Leben, was aber dem Glauben an sich keinen Abbruch tun muss, wie Brunner bestätigt: „Ich schätze es, in einer Zeit zu leben, in der ich frei entscheiden und meine Überzeugungen auch leben kann. Es geht nicht darum, gegen einen unaufhaltbaren Trend zu sein. Es geht vielmehr darum, den Schatz unserer eigenen religiösen Tradition zu heben und darauf nicht zu verzichten. Spaß und Wohlstand können auch bald langweilig werden und zu einer inneren Leere und Unzufriedenheit führen. Warum sollen wir nicht mit Freude auf die Weisheiten unserer Vorfahren zurückgreifen und z.B. den Genuss eines guten Bieres nach einer Zeit des Fastens wieder intensiv erleben? Es gibt viele Momente, wo Menschen manchmal auch auf Umwegen diese Traditionen wieder für sich entdecken und auf ein Mehr an Lebensqualität treffen.“

INTERRELIGIÖSES GEBET
Für ein besseres Miteinander zwischen den verschiedenen Religionsgruppen hat die Bezirksgemeinschaft Pustertal im Jahr 2003 zum ersten Mal das interreligiöse Gebet ins Leben gerufen, dessen Organisation ab 2006 von der Caritas Input Migrant(inn)enberatungsstelle übernommen wurde. Es wird inzwischen jährlich im Kapuzinergarten abgehalten. „Die Begegnung mit den Vertretern und Vertreterinnen der Weltreligionen zeigt, wie wichtig Begegnung und Dialog zum gegenseitigen Verständnis sind. Jedes Jahr besuchen das Gebet und das anschließende Familienfest, wo vom Pfarrgemeinderat Kaffee und Kuchen und vom VKE Spiele zum Verweilen angeboten werden, etwa 80 bis 120 Personen aller Altersgruppen: Familien mit Kindern, Jugendliche, ältere Personen, alte und neue Mitbürger unserer Gesellschaft“, erzählt Pusztai. „Bei der Organisation des interreligiösen Gebets bin ich, sowohl von Seiten der Stadtgemeinde wie auch von Seiten der lokalen Seelsorger, durchwegs auf viel Wohlwollen gestoßen. Die Herausforderung bestand und besteht eher im Bewegen von Mitgliedern der verschiedenen Religionen, beim interreligiösen Gebets mitzumachen“, gesteht Ennemoser, „von beiden Seiten, also von Seiten der Einheimischen, wie auch von Seiten der zugewanderten Menschen, nehmen einige nun schon über viele Jahre hinweg sehr treu teil. Aber auch neue Teilnehmer sind immer wieder da. Das interreligiöse Gebet ist ein Ort, wo zu dem EINEN Schöpfer des Universums gebetet wird und wo dann auch viel Austausch und freundliche Gespräche stattfinden.“ „In Bruneck laden wir jedes Jahr die Gläubigen aller Religionen zu einem ‚interreligiösen Gebet‘ in den Kapuzinergarten ein. Muslime halten in Bruneck jede Woche im Pfarrsaal ihr Freitagsgebet. Ich würde sagen, das Zusammenleben mit anderen Religionen kann uns zu einem intensiveren Leben unseres christlichen Glaubens herausfordern“, ist Wieser überzeugt.

Seit 2003 findet das interreligiöse Gebet im Kapuzinergarten statt.

RELIGION IST NICHT PRIVAT
„Oft hört man davon, dass Religion Privatsache sei. Ich halte das für eine naive Haltung. Natürlich ist meine Religiosität Ausdruck einer zutiefst persönlichen Entscheidung. Diese dringt jedoch durch meine Überzeugungen und mein Handeln nach außen. Auch die Vergewisserung, dass ich mit meinen Ansichten nicht alleine bin, führt zu Treffen mit Gleichgesinnten – in unserer Tradition etwa bei Gottesdiensten. Vor allem aber bin ich – als aufgeklärter Mensch – sehr daran interessiert, dass Religion sich nicht im dunklen Kämmerchen abspielt. Diese wirkmächtigen Überzeugungen sollen in der Öffentlichkeit miteinander ausgetauscht, mit anderen Auffassungen konfrontiert, und damit letztlich auch korrigiert werden. Nur so werden wir auf Dauer radikalen Formen des Religiösen den Nährboden entziehen können“, betont Brunner. „Unser Glaubensleben ist zu lange an Äußerlichkeiten gehangen, in der Volkskirche haben einfach alle mitgemacht, aber das Herz und der Verstand waren oft nicht dabei. Heute sucht der Mensch eine Erfahrung, wie bei einer Freundschaft. Es hat keinen Sinn den Kindern zu sagen: ‚Jesus ist dein Freund‘, wenn sie keine Erfahrung machen können. Bisher waren wir es gewohnt, dass alle mitgemacht haben, doch in Zukunft muss uns als Christen bewusst werden, dass wir in einer pluralen Gesellschaft leben und wir als Christen, auch wenn wir eine Minderheit werden sollten, durch unser christliches Leben zum Aufbau einer Gesellschaft beitragen können, wo alle als Schwestern und Brüder leben können“, hebt Wieser hervor, „die Kirche ist nicht Selbstzweck, sondern soll den Menschen Hilfe im Leben und in der Sinnsuche bieten. Sie soll helfen durch die Liebe zu Gott und den Menschen das Zusammenleben in Frieden zu ermöglichen. Die Freiheit für sich entscheiden zu können, kann mehr Liebe zum Ausdruck bringen als das Einhalten von strengen Vorschriften, Regeln und Geboten.“ (SP)

Dekan Josef Wieser:
„Religion kann zu einem gelingenden Leben beitragen.“

Karl H. Brunner:
„Religion ist eine persönliche Entscheidung, aber keine Privatsache.“

Andreas Ennemoser:
„Das Sich-Begegnen und Miteinander-Reden baut Vorurteile ab.“

Edina Pusztai Nonn:
„Im Pustertal sind inzwischen alle Weltreligionen zu finden.“