„Gib alles, nur nicht auf!“
Andrea Wisthaler ist leidenschaftliche Bergsteigerin. Am Eiger (Schweiz) geriet die 27-Jährige mit fünf weiteren Alpinisten in einen Wettersturz und sie mussten am Grat notbiwakieren. Diese Nacht hat ihr Leben verändert.
Frau Wisthaler, was ist am Eiger passiert?
Paul Knollseisen aus Terenten, zwei Bayern, zwei Belgier und ich wollten im Juli 2019 den Eiger (3.967 m) vom Ostegg über den Mittellegigrat überschreiten, der sich über 3,5 km Länge zum Gipfel zieht und als Integral bezeichnet wird. Am ersten Tag war die Ostegghütte (2.317 m) am Fuße des Eiger-Nordostgrates unser Ziel. Tags stand die nächste Etappe über die Eigerhörnli zur Mittellegihütte (3.355 m) auf dem Plan, eine anspruchsvolle Gratkletterei. Die Schlüsselstelle, drei Seillängen im Schwierigkeitsgrad V+, meisterten wir problemlos, doch plötzlich wurden wir von einem Wettersturz überrascht. Es begann zu regnen und schneien und im Nu war der Fels mit Eis überzogen. Wir steckten mitten am Grat fest und mussten notbiwakieren. Wir hätten uns keinen schlechteren Platz aussuchen können, aber es gab keine andere Wahl. Was sich da in deinem Kopf abspielt, kannst du dir nicht vorstellen. Du spürst dich selbst nicht mehr vor Kälte, und in den Ohren immer dieser heulende Sturm. Dieses Heulen machte mich wahnsinnig! Zwei Kameraden gaben sich auf, sie hatten keinen Lebensmut mehr. Ich selbst hatte eine Nahtod- Erfahrung und sah uns aus den Wolken herab auf dem Grat sitzen.
War eine Rettung nicht möglich?
Nein, wegen des Sturms konnte der Hubschrauber der Schweizer Rettungsflugwacht Rega nicht starten. Auch am nächsten Morgen war keine Rettung möglich, erst gegen 14 Uhr tat sich eine kleine Wolkenlücke auf und wir wurden mit zwei Hubschraubern geborgen. Paul hatte nur mehr eine Körpertemperatur von 29,7 Grad und wurde in die Klinik in Bern geflogen. Zum Glück sind wir alle mit dem Leben davongekommen und ohne gröbere Verletzungen bzw. bleibende Beeinträchtigungen.
Wie haben Sie dieses Unglück verarbeitet?
Ich brachte diese Bilder einfach nicht mehr aus dem Kopf, bei Tag nicht, bei Nacht nicht. Wochenlang hörte ich den Sturmwind in meinen Ohren! Dann begann ich das Erlebte niederzuschreiben und zog mir damit förmlich das Grauen aus den Fingern. Daraus ist nun ein Buch geworden, das im März erscheinen wird.
Was war im Gegensatz dazu Ihre schönste Bergtour?
Ich wollte sobald als möglich wieder in die Berge, um mein Trauma zu überwinden. Vor allem hatte ich mit dem Eiger noch eine Rechnung offen. Vorigen Sommer wiederholte ich mit meinem Freund dieselbe Route noch einmal.
Die Tour hat mich emotional ziemlich bewegt, wie im Kopfkino sah ich das Drama vor mir. Diesmal aber ging alles bestens. Bei der Stelle unseres damaligen Notbiwaks montierte ich eine kleine Plakette auf der steht: Diese Erfahrung war notwendig um zu verstehen, was im Leben wirklich wichtig ist. Danke dem Herrgott und der Rega für das unbezahlbare Geschenk, dass wir noch am Leben sind.“
Seitdem habe ich mit mir und dem Eiger den Frieden gefunden.
Was gibt Ihnen das Bergsteigen?
Bergsteigen gibt mir die Lösung für alles. Wenn mich etwas bedrückt oder ich gestresst bin, brauche ich nur in die Berge zu gehen und alles wird gut.
Ich lebe dann mittendrin in meiner Leidenschaft und blende alles andere aus. Bereits als Kind kraxelte ich gerne auf die Felsen. Die Liebe zu den Bergen habe ich wohl von meinem Vater, mein Bruder übrigens auch.
Hat Sie der Horror am Eiger verändert?
Absolut. Ich weiß alles im Leben viel mehr zu schätzen. Mitten im Sturm gelobte ich, alles, was ich besitze zu geben, wenn ich lebend diesem Horror entfliehen kann. Da checkt man erst, wie gut es einem geht und wie unzufrieden man wegen Nichtigkeiten ist. Uns hier in Südtirol geht es so gut, wir haben nicht nur alles, sondern viel mehr, als man braucht. In so einer Situation merkst du erst, wie verrückt deine Unzufriedenheit oft ist.
Charakterisieren Sie sich bitte …
Als Grafikerin bin ich ein kreativer Kopf, ich brauche Abwechslung und immer wieder Neues. Mein Beruf, mein Leben, besteht aus vielen bunten Farbklecksen. Ich bin willensstark, ehrgeizig, vielleicht manchmal auch etwas stur.Ich bin ein positiv denkender Mensch, immer zuversichtlich und eine überschwängliche Genießerin. Überhaupt seit diesem Ereignis, versuche ich das Jetzt noch mehr zu genießen. Nur der Tag hat für mich meist zu wenig Stunden, hätte er 25, könnte ich noch mehr als das Maximum herausholen. Meine größte Bewunderung verdienen Menschen, die Schicksalsschläge nicht aus der Bahn werfen und das Beste aus ihrer Situation machen. (IB)
Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.