“Vom Glück wissen, diese seine erste Welt ausbuchstabieren zu dürfen, kennend und könnend, damit sie uns begegnet und erreicht.“
In ihrem neuen Buch setzt sich die Schriftstellerin Waltraud Mittich mit Herkunftssuche, Migration und Weltfrieden auseinander. Ein Thema nicht nur für die Adventszeit. Für demütige Besinnung.
Frau Mittich, warum Herkunftssuche?
Meinen Vater, ein Ukrainer, habe ich nie kennengelernt. Ich wurde fern von ihm und meinem wahren Zuhause geboren. Im Zuge der Option wanderte meine Mutter ins Salzburgische aus, wo sie in der Hotellerie tätig war. 1946 wurde ich in Bad Ischl geboren. 1952 zog meine Mutter wieder zurück in ihr Elternhaus nach Toblach, einem Bauernhof. Dort lebte eine Großfamilie mit Großeltern, Onkel, Tanten, Cousinen.
Hat es sie belastet, dass Sie den Namen ihres Vaters erst sehr spät erfahren haben?
Ja, klar. In der Volksschule musste ich einen Fragebogen ausfüllen, gefragt war auch der Name des Vaters. Ich schrieb jenen meines Großvaters hinein – und erhielt Schelte vom Lehrer, denn er wusste ja, dass er falsch war. Meine Mutter wollte nicht darüber reden, damit musste ich mich als Kind abfinden.
War das für Sie eine lebenslange Bürde?
Irgendwie schon. Meine Vatersuche bezeichne ich als Herkunftssuche, die jeden Menschen begleitet. Das Wissen über die Herkunft ist wie ein Anker, gibt Sicherheit, ein Zuhause. Mein Buch „Ein Russe aus Kiew“ ist mein persönlichstes der bisherigen neun Bücher und es handelt von meiner Herkunftssuche über die Hinkunft zur Ankunft in meine Familie. Aber nicht nur. Ich habe versucht, mein eigenes Schicksal in einen größeren Rahmen einzubetten wie z. B. ins Thema der Leihmütter. Während der Pandemie waren in Kiew in einem Hotel hundert Babys abgegeben und von den Adoptiveltern nicht abgeholt worden. Über diese gestrandeten Kinder schreibe ich: „Eigentlich schreien sie alle: Sagt uns, wer wir sind.“ Weiters thematisiere ich Migranten, die sich von ihrer Familie trennen und diese vielleicht nie mehr wiedersehen – ein Hauptthema der heutigen Zeit und unabhängig von meinem eigenen Lebenslauf.
Ein Thema aktueller denn …
Für die Suche nach meinem Vater reiste ich in der Ukraine und begann das Buch zu schreiben und schon damals gab es politische Wirren im Donbass. Dass es jetzt im Zeichen des Krieges erschienen ist, ist ein ungeahnter Zufall. Mein Buch endet mit Beginn des Krieges.
Wie kamen Sie zur Literatur …
Die Liebe zur Literatur war immer schon da, ich war ein lesendes Kind und las bei jeder Gelegenheit: auf einer Bank, im Bett, unterm Tisch, auf dem Klo. Lesen und die Beschäftigung mit vielseitiger Literatur war meine große Leidenschaft – und ist es bis heute geblieben; ich bin eine manische Leserin. Nach dem Besuch der Volks- und Mittelschule in Toblach und des klassischen Lyzeums in Bruneck studierte ich an der Uni Padua moderne Sprachen und Fremdsprachen und schrieb meine Abschlussarbeit über die Lyrik von Ingeborg Bachmann. Ich studierte bei sehr namhaften Professoren und Germanisten wie Claudio Magris und Giuliano Baioni. Nach dem Studium unterrichtete ich Deutsch und Geschichte an der Handelsoberschule in Bruneck.
… und zum Schreiben?
Bereits als junge Frau fühlte ich, dass ich eine Begabung fürs Schreiben habe, dass davon aber nichts nach außen dringe. Mit Beruf und Familie – wir hatten inzwischen zwei Kinder – fehlte mir aber die Zeit zum Schreiben. Immer deutlicher verspürte ich den Wunsch, mich ganz dem Schreiben widmen zu wollen und so beendete ich 1990 das Unterrichten.
Wie empfinden Sie die heutige, spannungsgeladene Zeit?
Manchmal habe ich das Gefühl, dass alles zusammenbricht. Aber ich bin Optimistin und glaube, dass die Wissenschaft Wege findet, aus der Klimakrise herauszukommen – das ist prioritär. Politische Krisen gibt es immer, aber ich fürchte die rechte Regierung in Italien. Wir Südtiroler haben entsprechende Erfahrungen gemacht. Die Angst ist präsent.
Fühlen Sie sich als Südtirolerin?
Ja. Das Land geht mich was an. Ich rede nicht so gern von Heimat, aber alles Wichtige meines Lebens hat sich in Südtirol abgespielt. Wenn ich aus meinem Buch zitieren darf: “Vom Glück wissen, diese seine erste Welt ausbuchstabieren zu dürfen, kennend und könnend, damit sie uns begegnet und erreicht.“
Gibt es Wünsche?
Ich wünsche mir für meine Enkelkinder eine heilere Welt, als wir sie jetzt haben. Dass ihnen und uns allen ein sicheres Leben beschert werde. (IB)
Es gibt derzeit keine bevorstehenden Veranstaltungen.